Menschenrechts-Zeitzeuge im Nürnberger Zeugenstand

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Sind wir zu zuversichtlich gewesen? Haben wir einem Traum nachgehangen? Haben wir nichts erreicht?", fragt der deutsch-französische Diplomat Stéphane Hessel. 1948 hat er an dem Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitgearbeitet, heute stellt er fest: "Es gibt kein Menschenrecht, das wir nicht verletzt hätten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist das Neue in unserer Zeit und dennoch gibt es immer noch Kriege und einschneidende Verletzungen der Menschenrechtserklärung." Doch ganz so negativ fällt die Bilanz des 1917 in Berlin geborenen späteren Résistance-Mitstreiters von Frankreichs General Charles de Gaulle dann doch nicht aus: "Aber wir haben auch sehr viel erreicht. Heute gibt es keinen Kolonialismus, keine Apartheid und keinen Sowjetkommunismus mehr", urteilt der KZ-Buchenwald-Überlebende.

Als einer der letzten Zeitzeugen der NS-Barbarei steht der 91-jährige Stéphane Frédéric Hessel vergangene Woche, am 20. November 2008, dem 63. Jahrestag der Eröffnung der Nürnberger Prozesse, genau dort, wo 1945/1946 der Zeugenstand war: Hinter der Richterbank des Saals 600 im heutigen Oberlandesgericht Nürnberg. Anders als im Saal des Internationalen Militärtribunals hängt dort, wie in jedem Gerichtssaal des Freistaats Bayern, ein massives Kruzifix.

"1948 und danach blieb vieles strittig", erklärt Hessel im Saal 600 anlässlich einer Konferenz zum 60. Jubiläum der Allgemeinen Menschenrechtserklärung. Er verweist auf die gravierenden Differenzen, die für den Ost-West-Konflikt sowie für das Nord-Süd-Gefälle charakteristisch sind: Die Sowjetunion sowie deren Verbündete haben dem Westen über Jahrzehnte vorgehalten, sie vernachlässigten die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte. Umgekehrt haben vor allem die USA und Großbritannien von der Ostblockstaaten verlangt, sie müssten Religions- und Weltanschauungsfreiheit und andere Grundrechte garantieren. Diese Differenzen haben durch das Ende des Kommunismus zum Teil an Bedeutung verloren, sagt Hessel. Dagegen verschärften sich die Differenzen zwischen der industrialisierten Welt und den unterentwickelten Ländern.

Neues Thema: der Umgang mit Ressourcen

"In der Allgemeinen Menschenrechtserklärung steht noch nichts über den Umgang mit natürlichen Ressourcen", führt Hessel aus. "Mittlerweile ist die Weltbevölkerung von zwei auf sieben Milliarden Menschen angewachsen. Die aktuelle Herausforderung, die Erde zu schützen, muss mit der gleichen Motivation angenommen werden, wie man mit der Situation von 1948 umgegangen ist." Seit 1945 gehört Hessel dem diplomatischen Corps Frankreichs an. In den fünfziger Jahren zählt er zu den Beratern seines ehemaligen Résistance-Mitstreiters, Premierminister Pierre Mendes-France. Bei Amtsantritt von Staatspräsident François Mitterand 1981 wird Hessel zum Botschafter ernannt und mit politisch und diplomatisch verantwortungsvollen Aufgaben bei der UNO betraut.

Recht auf Entwicklung für jeden Menschen

Bereits seit den frühen sechziger Jahren engagiert sich Hessel für afrikanische Migranten und entwicklungspolitische Anliegen benachteiligter Staaten. Im Nürnberger Gerichtssaal unterstreicht er: "Wie die Grundrechte, so gehört auch das Recht auf Entwicklung jedem Menschen zugesprochen. Über zwei Milliarden Menschen leben in Armut, über 900 Millionen von ihnen leiden Hunger. Wir müssen die Kluft zwischen Arm und Reich beseitigen."

Der mehrfach ausgezeichnete Hessel wird am diesjährigen Tag der Menschenrechte in Paris den UNESCO/Bilbao-Preis für die Förderung einer Menschenrechtskultur entgegennehmen. Von seinem hohen Alter nicht gebeugt, versichert der Preisträger vor einer Woche im Nürnberger Gerichtssaal 600, er fühle sich jung genug, um in zehn Jahren für die nächste Bestandsaufnahme zur Verfügung zu stehen. Für die nächsten Jahre fordert er außer der Umverteilung von Ressourcen und Chancen, einen sachgemäßen Umgang mit den Gefahren des Terrorismus. Dabei dürften Armut und Verelendung als Ursachen des Terrorismus nicht vernachlässigt werden. "Bushs Bekämpfung des Terrorismus hat mehr Schaden als Nutzen gebracht", resümiert Hessel.

"Dennoch erleben wir jetzt, nach acht Jahren, wie Martin Luther Kings Traum von den Menschenrechten wahr werden kann. Notgedrungen müssen wir das 21. Jahrhundert im nächsten Jahr beginnen lassen. Die ersten acht Jahre werden wir einfach vergessen!" Warmherzig, aber unbestechlich nüchtern gibt er seinen Zuhörern im Gerichtssaal 600, in dem Geschichte geschrieben wurde, mit auf den Weg: "Es sieht nicht gut aus, aber seien Sie guten Mutes!" (Thomas Krapf)

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