Menschlicher Kältepol

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Der Unmensch ist überall verfügbar: "Winter im Morgengrauen" von Jens Martin Eriksen. Ein Roman, der den Schlaf raubt.

In jedem von uns steckt ein kleiner Hitler. Mit der Realität dieses zu oft und zu leicht ausgesprochenen Satzes konfrontiert uns der Roman "Winter im Morgengrauen" des dänischen Autors Jens Martin Eriksen. Von Hitler ist nicht die Rede, aber von der in vielen Menschen vorzufindenden Möglichkeit, Teil einer Mordmaschinerie, eines verbrecherischen Prozesses zu werden.

Dieses Buch raubt den Schlaf. In einem Hotelzimmer in Barcelona erzählt ein Mann dem Autor seine Geschichte, Tage und Nächte lang. Der politische Hintergrund ist sofort klar, auch wenn es bloß heißt: "Unabhängig jedoch davon, wo wir uns befanden, verlor er sich bis zur Sprachlosigkeit in seiner Erzählung aus dem Krieg. Und sehr oft hatte es den Anschein, als versuche er darauf hinzuweisen, dass seinem Schicksal etwas Allgemeines anhafte und dass er trotz seiner Lebensgeschichte voller Angst und Barbarei ein Mensch sei, wie alle anderen." Das Land ist Jugoslawien, Europas Kältepol der Menschlichkeit. Doch gibt es keine Volksgruppen, keine Nationalisten, nur Zivilisten, die für einen Monat zur Miliz eingezogen werden, einen Kommandanten, einen Adjutanten und einige Dörfer, die in die Zuständigkeit der Miliz fallen.

Sprachlosigkeit ängstigt

"Ich will von dem berichten, was sich während des Monats ereignete, in dem ich mich in Alabama aufgehalten habe ... Nicht weil ich diese Erinnerung bewahren möchte, damit sie mir unvergeßlich bleibt, und um mich mit ihr zu brüsten und sagen zu können, ich sei dabei gewesen ... Im Gegenteil, es handelt sich um etwas, das ich in der Zeit, die seither vergangen ist, wie ein Geheimnis für mich behalten habe." So beginnt der Roman.

Am Beginn steht Sprachlosigkeit als Ausdruck dessen, was nicht ausgesprochen und beschrieben werden kann. Sprachlosigkeit ist auch im Alltag kaum zu ertragen, ängstigt. Um die Ängste zu verscheuchen, gibt es Medien wie CNN, die die Fotos der Massaker und Ausgemergelten ins Haus liefern, zwischen Werbeeinschaltungen, als wäre es die normalste Sache. Die Bilder sind Bestätigung einer brutalen Realität: Der Mensch ist eine Bestie, so ist die Welt. Wer nicht weiter denkt, lebt trotz der Bilder in einer heilen Welt.

Eriksen schildert die Akteure, dass man fast Mitleid bekommt. Er beunruhigt gerade, weil er im Allgemeinen bleibt. Die Orte heißen, wie auch die Miliz sie nannte: Sansibar, Sambesi, Madagaskar, Kambodscha, Arizona, Alaska, Minnesota ... Als wäre alles nur ein Spiel. Für die Männer soll es keine Orte mit Geschichte geben, die Personen, die "behandelt" werden, sollen keine Individualität haben. Eine imaginäre Geographie, utopische Orte, "ein Niemandsland auf der Karte der Wirklichkeit."

Die Miliz kommt nach Madagaskar, der Turnhalle einer Dorfschule, "jeder lebte sozusagen noch in seinen Erinnerungen von Zuhause". Der Großteil der Tätigkeit besteht aus Warten, Kaffeetrinken, Rauchen, Dösen. Die Initiation erfolgt im Wald, wo der Kommandant die Bilder von Toten herumgehen lässt. Auch im Wald gibt es keine flammenden nationalistischen Reden, nur diese Bilder, die herumgereicht werden und die Ermahnung, dass alle froh sein müssten, dass darauf nicht ihre Eltern, Ehefrauen und Kinder zu finden seien.

Danach ist alles einfach. "Wir oder sie, würde es heißen." Und der Kommandant hofft, dass sich alle, "wenn uns Zweifel kämen, an jenen Augenblick im Wald erinnerten." Die Aufgabe ist einfach: Die männlichen Dorfbewohner über 16 Jahre werden Dorf für Dorf gesammelt und in einen nahen Wald gebracht, wo es zum "Abschluss der Begleitung" kommt, wie der Sprachcode lautet, sprich zur Erschießung durch Genickschuss. Die Erklärung ist sachlich wie in einer Anatomiestunde, es solle keinesfalls zu unnötigen Schweinereien kommen. Für den Erzähler ist es nicht so einfach. "Es erledigen, an nichts denken, wie jetzt etwas Normales, wie ein Teil der Handlung, wie die Repliken, die man uns mit dem Rollenheft unseres Lebens ausgehändigt hatte. Etwas anderes ist nicht zu tun.

Der Erzähler, von dem wir nur erfahren, dass er Literatur an der Universität studiert und eine Verlobte hat, wird mit dem ersten Auftrag nicht fertig und sieht in die Sonne, bis er ohnmächtig wird. Bloß ein Aufschub, die nächste Aktion ist bereits befohlen. Dazwischen heißt es warten. Der Alkoholspiegel steigt und die Verletzlichkeit des eigenen Körpers wird erprobt. In der Scheune springen die Männer von den Heuballen, um den Schmerz zu spüren, ein guter ist eine Linderung für die Gedanken. So verläuft der Abend nach einer Liquidierung. Schonungslos dringt Eriksen in die Gedanken seines Hauptakteurs vor.

Die Opfer knien aufgereiht vor dem Abhang. "Das Ganze kam so unvermittelt, und auf eine befreiende Art unwirklich und plötzlich, wie ein leichter Traum, den man während eines kurzen Mittagsschläfchens hat." Zwanzig knien, zwanzig stehen dahinter. "Wir konnten sie alle gleichzeitig abschießen" und die, die den Abhang hinunterfallen, sind "weg und schon ohne Gedanken".

Das Erkennen

Doch als der Erzähler einen in der Menge erkennt, mit dem er früher gespielt hat, als dieser ihn ansieht und fixiert, ist der Schleier der Anonymität zerrissen. Der Erzähler meldet sich ab, sein Freund Ludo hat sich plötzlich nicht mehr unter Kontrolle, offene Gewalt vor den Zusammengetriebenen, das schade der Sache, meint der Kommandant in einer Standpauke. Es handle sich hier um eine Miliz, man sei keine Verbrecherbande "und keineswegs sei dies hier eine simple sadistische Orgie". Der Erzähler bleibt in den nächsten Tagen in der Küche, hört die Berichte und lebt wie die anderen ohne Furcht vor Strafen und Repressalien. Nach einem Monat ist der Dienst aus, der Erzähler fährt zurück und trifft am letzten Abend seine Ablöse, die meint, "dass die Kampagnen ein phantastisches Erlebnis seien, das wir gewissermaßen geschenkt bekamen". Draußen schneit es, "Als fahre man über ein riesiges Vergessen."

Ein beunruhigendes Buch, denn das Tauwetter der Erinnerungen ist nicht zu verhindern. Einzig die Übersetzung weckt an einigen Stellen starke Befürchtungen, ob immer der richtige Ton getroffen wurde: "Wenn man sozusagen mit Repliken ausstaffiert ist, dann läuft alles gleichsam außerhalb von einem selbst ab". Aha.

WINTER IM MORGENGRAUEN

Roman von Jens Martin Eriksen

Liebeskind Verlag, München 2002

218 Seiten, geb., e 18,90

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