Metamorphosen des Übermenschen

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Zum Dossier. 100 Jahre nach seinem Tod ist Friedrich Nietzsches Prophezeiung des Übermenschen aktueller denn je. Jüngste Fortschritte in der Gentechnik könnten die ersten Schritte in Richtung eines nach Maß gezüchteten, neuen Menschen sein - eines Übermenschen. Für viele ist das eine absolute Horrorvision, für andere eine Realität, der wir vielleicht früher ins Auge sehen müssen, als uns lieb ist.

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Zum Dossier. 100 Jahre nach seinem Tod ist Friedrich Nietzsches Prophezeiung des Übermenschen aktueller denn je. Jüngste Fortschritte in der Gentechnik könnten die ersten Schritte in Richtung eines nach Maß gezüchteten, neuen Menschen sein - eines Übermenschen. Für viele ist das eine absolute Horrorvision, für andere eine Realität, der wir vielleicht früher ins Auge sehen müssen, als uns lieb ist.

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Nicht was die Menschheit ablösen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist mein Problem, das ich hiermit stelle; sondern welchen Typus Mensch man züchten soll, wollen soll, als den höheren, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren." Also sprach Friedrich Nietzsche, Prophet und Verkünder eines neuen Glaubens: "Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll." Was Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" als quasi religiöse Vision verkündete, ist heute, genau 100 Jahre nach dem Tod des ungemein einflussreichen deutschen Philosophen, aktueller denn je. Jüngste Fortschritte der Gentechnik und Biotechnologie, etwa das Klonen von Säugetieren und die Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen, sind möglicherweise die ersten Vorboten dessen, wovon Nietzsche träumte - und was für viele eine Horrorvorstellung ist: Die Erschaffung eines Menschen durch den Menschen, eines nach menschlichem Gutdünken und Maßstab gestalteten neuen Menschen - eines Übermenschen.

Die Idee einer verbesserten Version des Menschen geisterte schon lange vor Nietzsche durch die Köpfe von Denkern. Der griechische Philosoph Platon etwa träumte von einem Staat, in dem seine Zunftkollegen regieren und dafür sorgen, dass "die besten Männer mit den besten Frauen möglichst oft zusammenkommen". Der Begriff "Übermensch" selbst ist ausgerechnet christlichen Ursprungs, wie der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann erklärt. Demnach wurde er in der Reformationszeit geprägt, findet sich bei Martin Luther und in der pietistischen Erweckungsliteratur.

Seit Nietzsche seinen "Zarathustra" verfasste, ist der Begriff des Übermenschen untrennbar verbunden mit dem "Philosophen mit dem Hammer". Nietzsches Übermensch ist ein Mensch, der um den Tod Gottes weiß, der weiß, dass Glaube und Metaphysik Schimären sind. Die "heiligenden Kräfte" des Menschen verschwendet er nicht an ein nicht existierendes Jenseits, sondern lebt sie ekstatisch und intensiv, dionysisch, im Diesseits aus. Er ist stark, machtbewusst, kämpferisch und kennt kein Mitleid. Nietzsche kannte in seinem Übermenschen-Delirium kein Halten: Er fabulierte von der "Partei des Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entarteten und Parasitischen" Solche ungeheuerlichen Aussagen griffen später die Nationalsozialisten auf und verleibten sie ihren mörderischen Dogmen ein. "Protofaschistisch" nennt Bernhard Taureck daher Nietzsches Weltbild (siehe Seite 14). Dass Nietzsche nicht zusammen mit dem Dritten Reich für alle Zeiten diskreditiert ist, liegt wohl auch daran, dass sich bei ihm der Übermensch nicht über seine Rasse im Sinne einer Rassentheorie, sondern über seine Geisteshaltung definiert. Einige zeitgenössische französische Philosophen versuchen Nietzsche sogar antifaschistisch zu deuten.

Von Menschenzucht zu sprechen, ist jedenfalls wieder salonfähig geworden: "Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen wird der humanistische Horizont gesprengt", analysierte der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in seiner mittlerweile berühmten Rede "Regeln für den Menschenpark", mit der er voriges Jahr einen gewaltigen Gelehrtenstreit auslöste. Der Humanismus als "Schule der Menschenzähmung" sei gescheitert, so Sloterdijk, nun stehe der Diskurs über "Menschenzucht" an. "Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen" kämen auf uns zu, prophezeite der Denker und forderte, "das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren." Nur neun Monate später, mit den jüngsten naturwissenschaftlichen Entwicklungen im Hinterkopf (siehe Seite 15), ist der Aufschrei ob Sloterdijks nüchterner Überlegungen nicht mehr nachzuvollziehen.

In seinem Aufsatz "Der operable Mensch" (im Internet unter www.goethe.de/uk/bos/depslot2.htm nachzulesen) legt Sloterdijk allerdings gehörig nach: Es geschehe "den Menschen nichts Fremdes, wenn sie sich weiterer Hervorbringung und Manipulation aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern", stemmt sich Sloterdijk gegen die in seinen Augen "antitechnologische Hysterie, die weite Teile der westlichen Welt im Griff hat". Dabei beruft er sich auf den jesuitischen Theologen Karl Rahner, der schon 1966 in einer Festschrift "Die Frage nach dem Menschen" stellte: "Er muss der operable Mensch sein wollen, auch wenn Ausmaß und gerechte Weise dieser Selbstmanipulation noch weithin dunkel sind. Aber es ist wahr: die Zukunft der Selbstmanipulation des Menschen hat schon begonnen."

Die ersten naturwissenschaftlichen Ansätze der Menschenzucht sind zum Teil älter als Nietzsches Visionen. Schon 1869 entdeckte der Schweizer Pathologe Friedrich Miescher in Fischspermien und anderem biologischen Material die Erbsubstanz Desoxyribonukleinsäure (DNS). Der Brite Francis Galton prägte 1883 - im selben Jahr veröffentlichte Nietzsche den ersten Teil seines "Zarathustra" - den Begriff "Eugenik", worunter er die Wissenschaft von der genetischen Verbesserung des Menschen durch Zucht verstand. Der amerikanische Nobelpreisträger und Eugeniker Hermann Joseph Muller war 1932 sicher, dass 200 Jahre Menschenzucht genügen würden, um "für die Mehrheit der Bevölkerung Anlagen von der Qualität solcher Männer wie Lenin, Newton, Leonardo, Pasteur, Beethoven" zu sichern. Aldous Huxleys im selben Jahr erschienener düsterer Zukunftsroman "Schöne neue Welt", der das Bild einer Kastengesellschaft mit Arbeitssklaven aus der Retorte zeichnet, ist eine Reaktion auf die eugenische Euphorie jener Zeit.

Die Verbindung von Eugenik mit dem Rassenwahn der Nazis endete in der Katastrophe. Es kam zu Zwangssterilisationen und zur Massenvernichtung von "Untermenschen". Da mutet das NS-Geheimprojekt "Lebensborn" noch vergleichsweise harmlos an, in dessen Zug "arische" Frauen gezielt mit SS-Recken verkuppelt wurden, auf dass sich die "arische Rasse" vermehre. Nach dem zweiten Weltkrieg galt die Eugenik weltweit als diskreditiert.

Unberührt davon wurden in der Nachkriegszeit die Grundlagen der heutigen Gentechnik geschaffen: 1953 beschreiben James Watson und Francis Crick die DNS-Struktur als spiralförmiges, doppelsträngiges Molekül, als so genannte Doppelhelix. Seit Anfang der siebziger Jahre können Biotechniker DNS-Moleküle auftrennen und neu zusammenfügen, 1973 produzieren Forscher das erste gentechnisch veränderte Bakterium. 1997 schließlich präsentieren schottische Forscher das Klonschaf Dolly, das erste Säugetier, dessen Existenz nicht auf eine Keimzelle, sondern auf eine erwachsene Körperzelle zurückgeht. Im April dieses Jahres schließlich meldete das US-Unternehmen Celera Genomics, dass es das menschliche Erbgut entschlüsselt habe, dass es die chemischen Buchstaben von 99 Prozent der menschlichen DNS identifiziert habe.

Nun kennt man die genaue Zahl und die Anordnung der menschlichen Gene, ihre Funktion hingegen bleibt größtenteils unbekannt. Bisher wissen die Forscher erst von zehn Prozent der Gene, was sie bewirken. Dass sich darunter Gene befinden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheiten auslösen können, ist derzeit die stärkste ideelle und ökonomische Triebfeder der Genforschung. Dabei würde ein defektes Gen im befruchteten Ei durch ein intaktes ersetzt, oder ein Gen, das Krebs, Fettsucht oder Asthma auslösen könnte, ausgeschaltet. Noch weiter geht die Idee, dem menschlichen Erbgut zusätzliche Gene hinzuzufügen, etwa ein Gen, das vor Aids oder einer anderen Krankheit schützt. Sollte es einmal möglich sein, menschliche DNS aus einzelnen Genen zusammenzusetzen, steht dem Menschen nach Maß nichts mehr im Weg.

Sollten diese Zukunftsvisionen dereinst wissenschaftlich und technisch in die Wirklichkeit umsetzbar sein, dann werden sie auch - gegen alle ethischen Bedenken - früher oder später in die Wirklichkeit umgesetzt. Dass durch Eingriff ins Erbgut Erbkrankheiten eliminiert und das Risiko bestimmter Krankheiten vermindert werden könnte, ist sicher begrüßenswert. Dass Eltern das Aussehen, vielleicht sogar die Anlage des Charakters ihrer Kinder bestimmen könnten, schon weniger. Vor allem Horrorvorstellungen drängen sich auf: Totalitäre Regime könnten durch Klonen Armeen von Ultra-Rambos züchten, bei Olympischen Spielen würden bizarre Athleten Medaillen abräumen. Möglicherweise könnte manchen die Zucht des neuen Menschen zu langsam gehen und sie die Ausrottung der alten Menschen beschleunigen, der nationalsozialistische Rassenwahn könnte eine Renaissance erfahren.

Kein Wunder, dass der Gentechnik und ihren möglichen Anwendungen eine ungeheure Skepsis entgegengebracht wird - selbst von jenen Wissenschaftlern, die auf diesem Gebiet tätig sind: "Ich persönlich bin dagegen, dass man - zu welchen Zwecken auch immer - gentechnisch veränderte Menschen produziert", bekennt der Wiener Genetiker Erwin Heberle-Bors stellvertretend für viele. Doch so mancher blickt zumindest vorsichtig optimistisch in die Zukunft.

"Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das reaktionäre Herrische noch einmal mit den Massen-Ressentiments zu einem neuartigen Faschismus verbünden wird. Aber das Scheitern solcher revolutionärer Reaktionen ist ebenso vorhersehbar wie ihre Heraufkunft", gibt Peter Sloterdijk in Zusammenhang mit dem Siegeszug der "Anthropotechniken", wie er Gentechnik und Biotechnologie nennt, zu Bedenken. Aber er sieht in den naturwissenschaftlichen Entwicklungen die "logische Fortsetzung unserer Zivilisationsgeschichte". Wenn sich die bestehende "Monsterfurcht" und die Sorge um "Gensklaverei" ausräumen ließen, meint der Philosoph, könne man mit größerer Ruhe auf die Implikationen der Gentechnik blicken.

Der aufsehenerregende Roman "Elementarteilchen" des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq (1998) ist der fiktive, beißend kritische Rückblick eines Übermenschen auf unsere Zeit. Aus einer Welt, in der die letzten Vertreter des alten Menschen im Aussterben begriffen sind, in der ansonsten "Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit" herrschen, in der es nur noch ein Geschlecht gibt, blickt der Namenlose zurück auf eine Zeit von "Auflösung und allmählichen Zerfalls". Der Roman handelt von dem eigenbrötlerischen Wissenschaftler Michel Djerzinski, der später eine Methode entwickeln soll, menschliches Erbgut nach Belieben zu synthetisieren und seinem Halbbruder Bruno, der an der - so Houellebecq - unmoralischen, libertären, antisozialen Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts zerbricht. Das Buch schlug wegen seiner Kritik an der sexuellen Befreiung und der liberalen Gesellschaft als Ganzes sowie der Übermensch-Thematik hohe Wellen.

Beruhigend ist auch der Blick auf die gegenwärtigen Vorbilder eines möglichen Übermenschen: Die Idole von heute sind sehr weit von der von den Nazis propagierten "arischen Herrenrasse" (zäh wie Kruppstahl und so fort) entfernt. In Deutschland wurde ein junger Mann zum Vorbild der Massen, der alles andere als arisch ist: Der Schwabe mazedonischen Ursprungs Zlatko Trpkovski ("Sladdi"), der ehemalige Bewohner der "Big Brother"-Container - ein mehr als unperfekter Übermensch: ein Körper wie ein antiker Held, aber schwer tätowiert; schlau, aber ungebildet. Ins Herz der Deutschen schwäbelte er sich mit dem Bekenntnis, von William Shakespeare noch nie etwas gehört zu haben. Auch was Theater ist, musste ihm erst erklärt werden. Eine aktuelle Vorlage für einen weiblichen Übermenschen gäbe wohl die ebenfalls "Big Brother"-erprobte Verona Feldbusch, die über eine Figur wie eine Barbie-Puppe verfügt - und auch über deren Intelligenz. Das hat einen großen Vorteil: Anders als vor der Videospiel-Amazone Lara Croft muss vor einer Armee von Verona Feldbusch-Klonen niemand Angst haben.

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