"Michael Moore hat das Terrain vergiftet"?

Werbung
Werbung
Werbung

Über den Glanz und die Niederungen des Runder Tisch mit Dokumentarfilmerin Elisabeth Scharang, Regisseur Dokumentarfilmmachens in Österreich. und Produzent Nikolaus Geyrhalter sowie (Spielfilm-)Regisseur Florian Ficker.

Die Furche: Österreichs Film reüssiert international gerade im Bereich Dokumentarfilm, und auch auf der diesjährigen Diagonale spielt dieses Genre einmal mehr eine überragende Rolle. Worauf führen Sie das zurück?

Elisabeth Scharang: Ich will nicht bestreiten, dass der Dokumentarfilm zur Zeit ziemlich stark ist, Nikolaus Geyrhalter hat erst kürzlich beim Dokumentarfilmfestival in Amsterdam den Jurypreis bekommen. Aber das sind wahrscheinlich Phasen, es wird auch wieder die Spielfilmphase kommen.

Die Furche: Gerade in letzter Zeit locken Dokumentarfilme aus Österreich für hiesige Verhältnisse viele Zuschauer ins Kino. Warum ist das so? Sind die Leute mit Hollywood-Spielfilmen übersättigt oder haben Filmemacher wie Michael Moore den Dokumentarfilm populär gemacht?

Nikolaus Geyrhalter: Ich weiß nicht, ob uns Michael Moore Gutes getan hat. Denn der Dokumentarfilm ist jetzt mit seinem Stil behaftet: Viele Leute erwarten sich weiter so etwas. Moore hat in gewisser Weise ein Terrain vergiftet.

Florian Flicker: Aber es ist dennoch gut, dass es das gibt. Allerdings: Viele Leute liegen nach einem Michael-Moore-Film falsch, wenn sie dann zu wissen glauben, was ein Dokumentarfilm ist.

Scharang: Ich glaube nicht, dass Moore ein Terrain vergiftet, sondern dass er eines eröffnet. Der Dokumentarfilm läuft zur Zeit auch deswegen so gut, weil nicht mehr so ein Unterschied zum Spielfilm gemacht wird. Die Leute sagen: "Ich geh ins Kino", und nicht mehr: "Ich geh in einen Spielfilm oder einen Dokumentarfilm". Michael Moores Filme haben auch die Chance eröffnet, dass in den Kinos nun generell ein größeres Spektrum an Dokumentarfilmen läuft und von Leuten gesehen wird, die sich das vorher grundsätzlich nicht angeschaut hätten. Dass du 50 Prozent davon wieder verlierst, ist egal ...

Die Furche: ... denn die bleibenden 50 Prozent sind ja auch noch genug.

Scharang: Mir gefällt die Vielfältigkeit, dass die Unterschiede verschwinden. Michael Glawogger, der viele Dokumentarfilme gemacht hat, war jetzt mit dem Spielfilm Slumming auf der Berlinale, der Spielfilmer Florian Flicker eröffnet die Diagonale mit einem Dokumentarfilm. Die Zuschauer haben nicht mehr das "Dokumentarfilm ist fad"-Image im Kopf.

Die Furche: Stellen sich viele aber unter Dokumentarfilm nicht immer noch das vor, was im Fernsehen läuft?

Flicker: Man soll das nicht schubladenhaft sehen. Als Spielfilmer dachte ich bei Dokumentarfilm schon vor allem an ernste, intellektuelle Filme. Inzwischen hat sich das geändert. Ich sehe, dass die Grenzziehung zwischen Spiel-und Dokumentarfilm nicht klar ist und Realität sehr unterhaltsam sein kann.

Scharang: Dokumentarfilm wird jetzt auch außerhalb der Festivals als Form wahrgenommen: Super, dass der Dokumentarfilm Teil des normalen Kinobetriebs wird ...

Flicker: ... und das hat sehr wohl etwas mit dem Fernsehen zu tun, weil das Fernsehen gerade im Dokumentarischen seine Aufgaben immer weniger wahrnimmt.

Geyrhalter: Viele der Filme entstehen auch deswegen fürs Kino, weil sie im Fernsehen keinen Platz mehr haben, obwohl sie dort Platz haben müssten! Alles, was über eine nivellierte Berichterstattung hinausgeht, findet oft keinen Platz mehr. Der ORF ist auch dafür zu kritisieren, dass er - obwohl österreichische Dokus im Ausland als hochwertiger Exportartikel anerkannt sind - nur den Sendeplatz am Sonntag gegen Mitternacht dafür einräumt. Auch von daher ist gut, wenn die Leute ins Kino gehen. Der ORF könnte diesen Trend noch viel stärker nützen und daraus Kapital schlagen. Er hat ja einen großen Teil dieser Filme mitproduziert und viel Geld hineinsteckt.

Scharang: Ich habe immer gern fürs Fernsehen gearbeitet: Wenn es sinnvolle Sendeflächen gibt, wäre es schön, in verschiedenen Formaten auch kleinere Projekte zu machen, aber es gibt keine Sende-Plätze. Du kannst also gar nichts anbieten, und es gibt wenig Geld - mit 30.000 Euro für eine Produktion kommt man nicht weit.

Geyrhalter: Es gibt kaum einen wirklichen Sendeplatz für einen Film, der als solches Werk auch angekündigt und rezipiert wird und auch eine variable Länge haben darf. Das fängt mit der Unart an, dass Fernsehsender - nicht nur der ORF! - zuerst sagen, ich will meine 58 oder 29 Minuten ... Die meisten Produzenten bedienen diesen Markt - und wehren sich nicht dagegen: Sie sind daher auch mitschuld.

Die Furche: Verliert der Dokumentarfilm Publikum, weil das Fernsehen ausfällt?

Geyrhalter: Nein, weil Fernsehen ist ja kein Publikum in dem Sinn. Wenn man die Filme nicht im Fernsehen findet, kommen die Leute eben ins Kino. Ich glaube, dass man dadurch fast eher das Publikum gewinnt, weil es offensichtlich eine ungestillte Sehnsucht des Zusehers gibt ...

Scharang: ... ja, das glaube ich auch. Es ist auch ein älteres Publikum. Das Doku-Publikum (das war auch im Fernsehen so!) ist insofern interessant, weil es altersmäßig eine extreme Bandbreite hat, viel größer als beim Spielfilm. Der Spielfilm Crash Test Dummies, der letztjährige Eröffnungsfilm der Diagonale, ist nichts für meine Mutter. Aber dein Film "Unser täglich Brot" ist für Leute von 15 bis 75 ...

Die Furche: Florian Flicker, wieso haben Sie, der Spielfilmregisseur, den Dokumentarfilm "No Name City" über einen niederösterreichischen Erlebnispark in Form einer "Westernstadt" gemacht?

Flicker: Der Produzent Ralph Wieser hat mich gefragt, ob ich nicht einen Dokumentarfilm machen will, und da gab es dieses Thema, das mich schon lang fasziniert hat und das sich nur für einen Dokumentarfilm eignete, der aber an sich schon wiederum fast ein Spielfilm ist - über eine "Filmwelt" inklusive ihrer Bewohner. Da entstanden Szenen, wo Realität und Fiktion sich die Hand geben.

die Furche: Sie kommen im Film ja auch selber vor.

Flicker: Ich habe mir gedacht: Wenn sich die Protagonisten der Kamera aussetzen, so muss das auch ich tun, weil ich ja in diesem Moment Teil dieser Stadt war. Ich will nicht ins Aquarium hineinschauen. Ich bin Teil des Aquariums. "Reine Beobachtung" gibt es ja nicht: Sobald man eine Kamera hinstellt und sich damit zu Menschen begibt, inszeniert man ja schon ...

Die Furche: Wie viel Inszenierung braucht der Dokumentarfilm?

Flicker: Sobald du Protagonisten vor eine Kamera stellst, beeinflusst du sie auf irgendeine Weise. Die merken ja auch, dass du da bist.

Geyrhalter: Die Frage der Inszenierung stellt sich so überhaupt nicht, weil Film ein Kunstprodukt ist. Außerdem ist der Dokumentarfilm (im Gegensatz zur Dokumentation) auch ein Autorenfilm, wo ein Autor mit seiner Handschrift dahintersteckt. Man weiß, wenn zum Beispiel "Ulrich Seidl" drauf steht, dann ist auch Seidl drin. Man geht hin, weil ihn dieser Regisseur gemacht hat.

Die Furche: Ihr neuer Film "Unser täglich Brot" über Nahrungsmittelproduktion ist gesellschaftlich brisant (ebenso wie Hubert Saupers "Darwin's Nightmare"): Wollen Sie aufspüren, was gesellschaftlich in der Luft liegt?

Geyrhalter: Überhaupt nicht. Das halte ich auch für einen großen Fehler - und es geht meistens schief. Ich mache die Filme, die mich interessieren. Und ich denke vorher nicht darüber nach, was das Publikum will und wie ich dem entgegenkommen kann.

Die Furche: Es kann aber doch sein, dass Sie damit etwas gesellschaftlich Relevantes aufgreifen ...

Geyrhalter: ... das kann schon sein. Aber es ist nicht so, dass ich sage, das ist das Thema der Zeit, da mach ich einen Film dazu.

Scharang: Aber wie kommst du dann zur Entscheidung, gerade diesen Film zu machen?

Geyrhalter: Es ergibt sich einfach. Bei Unser täglich Brot hat mich das Thema schon lang interessiert, sodass ich gesagt hab, da mache ich eine Recherche. Ganz einfach. Natürlich gibt es ein persönliches Interesse - ich bin auch Konsument, ich esse auch. Ich habe natürlich wahrgenommen, dass Lebensmittel immer billiger und nicht unbedingt besser werden. Die Geiz-ist-geil-Mentalität ist mir schon so auf die Nerven gegangen, dass mir klar war: Wenn das Essen nichts mehr kostet, muss irgendwo anders der Preis dafür gezahlt werden. Natürlich hat mich das interessiert. Der Film hat sich ja auch verändert, er ist ja auch gewachsen im Laufe der Zeit ...

Flicker: ... und das ist das Spannende: Man weiß vor Beginn der Dreharbeiten nicht, was das für ein Film wird. Was mich auch überrascht hat, ist, dass die Hauptfiguren eines Dokumentarfilms nach Drehende weiterleben. Man kann mit ihnen dann noch telefonieren, wie geht's euch und so... Der Film hört - für mich - eigentlich nie auf.

Die Furche: ... während Schauspieler eines Spielfilms danach nicht mehr die Figuren sind, die sie dargestellt haben.

Scharang: Wenn es sich um Leute handelt, die man sehr nah haben will, dann ist es bis zu Schluss und über die Fertigstellung hinaus eine Auseinandersetzung, auf die man sich einlassen muss. Wenn man mit Menschen arbeitet, dann entstehen Beziehungen. Das ist nicht zu unterschätzen. Wenn man schon Wertigkeiten macht, dann ist für mich Dokumentarfilm die Königsklasse - vor dem Spielfilm! Denn da hast du es nicht mit Profis zu tun, die du dafür bezahlst, dass sie das tun, was du willst.

Flicker: Auch die Macht ist eine viel größere - wie man den Menschen im Film inszeniert oder durch den Schnitt manipuliert. Das ist eine Riesenverantwortung. Ich glaube aber nicht, dass die Königsklasse der Dokumentarfilm ist, die Königsklasse ist guter Film.

Die Furche: Nikolaus Geyrhalter, Sie sind auch Produzent: Wie schaut die finanzielle Seite des Dokumentarfilms aus?

Geyrhalter: Es wird in Österreich immer schwieriger, anspruchsvolle Produktionen zu finanzieren. Das betrifft nicht nur den Dokumentarfilm, sondern alle Filme. Es ist zu wenig Geld da. Wenn man Glück hat, dann finanziert man's eben ...

Die Furche: Wie lange dauert es , eine Finanzierung zu Stande zu bringen?

Geyrhalter: Wenn man heute einen Film finanzieren will, dann ist das eine Frage von einem Jahr bis Jahren. Es ist mit dem ORF als Ko-Produzenten und lokalen Förderern in der Regel nicht getan. Wenn man andere Partner braucht, dauert es einfach.

Scharang: Ich hab diese Erfahrung so nicht gemacht. Das hängt wirklich davon ab, wieviel Geld du brauchst. Und es hängt zum Beispiel auch davon ab, wie sich der digitale Film auch fürs Kino entwickelt. Gerade was den Dokumentarfilm betrifft, bahnt sich da eine Revolution an. Natürlich, wenn man viele Landschaftstotalen filmt wie etwa Glawogger in Working Men's Death, dann braucht man das 35-mm-Material. Aber in Räumen oder für Porträts hat man mit dem digitalen Video schon einen großen Benefit. Das kommt auch meiner Arbeitsweise entgegen: Ich hab gedreht, wenn ich Zeit gehabt habe - und musste nicht ein Team anmieten. Ich brauche viel Zeit mit den Menschen, über die und mit denen ich Filme mache. Das würde mir niemals jemand bezahlen... Und ich kann oft nicht drei Jahre auf Förderentscheidungen warten - dann sind die Protagonisten entweder schon tot oder eine wichtige Entwicklung bereits abgeschlossen. Und da ist die digitale Videotechnik von großem Vorteil.

Die Furche: Kann man als Filmemacher hierzulande überhaupt unabhängiger sein?

Flicker: Die wesentliche Unabhängigkeit, um die wir kämpfen ist jene, ob wir vom Filmemachen leben können. Wir alle werden nicht reich mit unseren Filmen.

Die Furche: Aber als kommerzieller Produzent möchte man schon Geld verdienen.

Scharang: Man muss sich halt entscheiden: Man könnte sich ja um gewisse Arbeiten bemühen. Aber Florian Flicker kann nicht einfach zum ORF gehen und sagen: Leute, ich möchte gern einen "Tatort" drehen. Gewisse Formate, für die du stehst, verbieten es, anderes zu machen. Nikolaus Geyrhalter kann nicht hergehen und sagen: Ich drehe drei Folgen "Alltagsgeschichten", weil ich Geld brauche.

Flicker: Du meinst, weil dann der Ruf ruiniert ist? ...

Scharang: ... ja. Es geht nicht. Jeder steht ja für etwas. Das Feld, für das du stehst, ist nicht unendlich ausdehnbar.

Geyrhalter: Als Regisseur hast du dir ja einen Namen aufgebaut, mit dem du für deine spezielle Form stehst. Es ist, wie schon gesagt, auch eine Frage des Wollens: Will ein Fernsehprogramm auch eine Schiene haben, in der ein Film als Werk dasteht - wo man weiß, dahinter steht ein Regisseur, der schon andere Filme gemacht hat, an die man sich erinnern kann. Damit kann man das Programm bewerben, das kann man als Qualität dem Zuseher und anderen Sendern verkaufen ... - oder man glaubt, das Publikum merkt eh keinen Unterschied - und macht's dann eben nicht.

Scharang: Es gibt da natürlich schon auch die Fronten zwischen den Filmemachern und dem ORF - als Switcher zwischen beiden krieg ich das ja auch zu spüren: Da heißt es bei den Filmemachern: "die Trotteln vom ORF", und andererseits beim ORF: "die supergscheiten Filmleut, die keine Quote bringen, keine Filme fürs Publikum, sondern nur für sich selber machen." Es ist diese Kultur, wie es sie zum Beispiel in Frankreich gibt, einfach nicht da - aber von beiden Seiten!

Das Gespräch moderierten Otto Friedrich und Matthias Greuling.

Nikolaus Geyrhalter, geb. 1972, Dokumentarfilm-Regisseur und Filmproduzent. Sein Diagonale-Beitrag Unser täglich Brot wurde auf dem Amsterdamer Dokumentarfilmfestival 2006 mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Den gleichen Preis erhielt Geyrhalter 2001 für den Episodenfilm Elsewhere, in dem in 12 Blitzlichtern das Leben indigener Kulturen im Jahr 2000 eingefangen wird. Weiters: Pripyat übers Leben in der Tschernobyl-Nachbarstadt (1999, u. a. Großer Festivalpreis München, Großer Diagonale-Preis), Das Jahr nach Dayton über Bosnien nach dem Krieg (1997, u.a. 3sat-Dokumentarfilmpreis).

Elisabeth Scharang, geb. 1969, seit 1995 Radiomoderatorin bei FM4, ab 1997 freie Regisseurin. Ihr Dokumentarfilm Tintenfischalarm (vgl. Seite I, Premiere: Berlinale 2006) wird bei der Diagonale gezeigt. Scharangs TV-Spielfilm Mein Mörder rund um den NS-Euthanasiearzt Heinrich Gross erhielt 2006 den Hauptpreis des Filmfestivals Biarritz. Weitere Dokumentarfilme: Normale Zeiten (2001; Arbeiterresümee über die Ära Kreisky), Die Tage der Kommune (1997; Auseinandersetzung mit Otto Mühl & Co). Für ihr FM4-Gespräch mit Elfriede Jelinek erhielt Scharang 2005 den Radiopreis der Erwachsenenbildung).

Florian Flicker, geb. 1965, (Spielfilm-)Regisseur und Drehbuchautor, eröffnet nach 1998 mit Suzie Washington heuer zum 2. Mal die Diagonale, diesmal mit dem Dokumentarfilm No Name City. Flickers erster Spielfilm Halbe Welt über eine durch tödliche Sonnenstrahlung bedrohte Stadt erreichte 1994 beim Festival von Gererdmer den Preis für den besten Erstlingsfilm. Fürs österreichische Roadmovie Suzie Washington erhielt Flicker 1998 ebenso den Großen Diagonale Preis wie 2000 für seinen letzten Spielfilm Der Überfall, der mit Josef Hader, Roland Düringer und Joachim Bissmeier auch ein Publikumserfolg war.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung