Miefiger Pfuhl der Verlogenheit

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Christoph Marthaler hat mit Ödön von Horvaths "Zur schönen Aussicht" eine seiner kompaktesten Regiearbeiten abgeliefert.

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Christoph Marthaler hat mit Ödön von Horvaths "Zur schönen Aussicht" eine seiner kompaktesten Regiearbeiten abgeliefert.

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Christoph Marthaler liebt man, oder man haßt ihn. Wenn Sie den Stil des Schweizer Regisseurs nicht schätzen, dann hat er - in Ihren Augen - Ödön von Horvaths bittere Komödie "Zur schönen Aussicht" bei den Salzburger Festspielen verhunzt. Dann sparen Sie lieber das Geld für die Eintrittskarte, Sie würden das Salzburger Landestheater ohnehin spätestens in der Pause verlassen. Wenn Sie aber ein Marthaler-Fan sind - und vielleicht sehnlichst darauf warten, daß er endlich Goethes "Faust" inszeniert -, so werden Sie begeistert sein: Mit seiner jüngsten Festspiel-Produktion legt er eine seiner kompaktesten Arbeiten vor, die um vieles gelungener ist als "Kasimir und Karoline", seine überschätzte erste Auseinandersetzung mit Horvath.

"Zur schönen Aussicht" - welch trügerischer Name für ein heruntergekommenes Hotel, dessen Bewohner so tief unten angekommen sind, daß ihre Lage ganz und gar aussichtslos ist. Wo keine Aussicht ist, da braucht es auch keine Fenster und der elendigliche Mief, den die Absteige ausstrahlt, könnte ohnehin selbst durch intensives Lüften nicht zum Verschwinden gebracht werden. Die geniale Bühnenbildnerin Anna Viebrock ist wieder einmal in ihrem Element: Ostblock-Tristesse, eine versiefte Küche, Fauteuils aus Lederimitat, die zusammenkrachen, Kostüme aus der Zeit um 1980, man glaubt den jahrzehntealten Achselschweiß bis in die Logen hinauf zu riechen. Wie in anderen Zeitungen zu lesen war, lieferte immerhin ein Fernseher Bilder von draußen, der jedoch war für schätzungsweise ein Fünftel der Zuseher, darunter der Furche-Kritiker, nicht zu sehen. Daß die Seiten der Bühne für große Teile des Publikums unsichtbar bleiben, diesen Vorwurf kann man Viebrock nicht ersparen.

Bevölkert wird die triste Bude von typisch verfremdeten Marthaler-Figuren, die herumstehen, mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck sinnlose kleine Rituale vollziehen oder scheinbar unmotiviert singen. Jürg Kienberger als drittklassiger Barpianist unterlegt die Aufführung mit einem köstlichen Easy-Listening-Soundtrack und säuselt immer wieder sein abgeschmacktes "Dangeschöön". Vor dem endgültigen Bankrott wird das Hotel nur von der abgetakelten Ada Freifrau von Stetten (Susanne Düllmann) bewahrt. Im Preis ihres Zimmers ist das Personal miteinbegriffen: Strasser (Andre Jung), der Besitzer des Ladens, ein schmieriger Gauner, ebenso wie der von nervösen Zuckungen geplagte Kellner Max (Matthias Matschke). Zusätzlich hat die Dame auch noch ein Verhältnis mit ihrem grobschlächtigen Chauffeur (Ueli Jäggi), einem ehemaligen Zuchthäusler mit einer schauerlichen Vorne-kurz-hinten-lang-Frisur.

Selbst ihren eigenen Bruder (Jean-Pierre Cornu) behandelt sie wie einen Lakaien: Er hat 70.000 Mark verspielt und muß sich - Adel verpflichtet - erschießen, wenn er das Geld nicht binnen zwölf Stunden auftreibt, doch sie läßt ihn zappeln. Ihre Macht endet erst, als die naive Christine (Olivia Grigolli) auftaucht, der Strasser ein Kind gemacht hat. Zuerst wird sie von den Männern auf gemeinste Weise erniedrigt, als sich aber herausstellt, daß sie eine reiche Erbin ist, wird sie von denselben Männern umworben wie eine Prinzessin. Mit Ach und Krach entkommt sie diesem Pfuhl der Verlogenheit und Selbstsucht.

Und noch ein anderer wird der Aussichtslosigkeit entrinnen - und dafür eine noch viel größere Katastrophe mitverursachen: der Sekt-Vertreter Müller (Stephan Bissmeier). Mit Sätzen wie "Man könnte doch ruhig einige Millionen Menschen vernichten" gibt er sich als einer derer zu erkennen, die Jahre später in brauner Uniform Deutschland beherrschen sollten: Horvath schrieb "Zur schönen Aussicht" 1926 und sah offenbar darin die häßlichen Zeiten schon voraus.

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