Minimalistisch und reduziert

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Michael Thalheimer inszeniert "Geschichten aus dem Wienerwald“, Claude Régy zeigt im Einakter "Intérieur“ ein "statisches Drama“.

Man konnte nicht erwarten, dass Michael Thalheimer in seiner Inszenierung der unbarmherzigen "Geschichten aus dem Wienerwald“ ein pittoreskes Genrebild Wiener Gemütlichkeit entwerfen würde. Dass sie dann aber so reduziert und seine Deutung von Horváths Wirtschaftskrisenstück aus dem Jahr 1930 von so einer gnadenlosen Nüchternheit und analytischen Schärfe sein würde, hat dann doch nicht wenige überrascht und ihm am Ende auch einige heftige Buhrufe eingebracht. Ihm dürfte es egal gewesen sein, zumal sie kaum berechtigt sind.

"Der Mensch hat Licht und Schattenseiten, das ist normal“, lässt Horváth Frauenkenner und "Rennplatzkapazität“ Alfred am Anfang einmal sagen. Und es scheint, als würde sich Thalheimer genau das zu zeigen vorgenommen haben. Der grandiose Anfang gehört Johann Strauß’ Walzer "An der schönen blauen Donau“, dessen Anfangstakte als leise Geigenvibrati die ganzen zwei Stunden über die Szene akustisch grundieren werden. Während die Dreivierteltakte immer lauter erklingen, das Licht im Saal immer heller leuchtet, nimmt das Personal von Horváths Stück nach und nach seinen Platz ganz hinten auf der gänzlich leergeräumten Bühne ein. Minutenlang sitzt sie dort, eine erstarrte seelenlose Gesellschaft, die nicht mal mehr Klänge des Walzers aller Walzer in Bewegung zu versetzen vermag. Die Leere und Schwärze der Bühne auch ein Sinnbild für Horváths Menschen, allesamt deklassierte, einsame, beschädigte Seelen, lauter Sprachinvalide, deren Artikulationsform für die eigenen Bedürfnisse erloschen, deren mitfühlende Wahrnehmung des Anderen längst erkaltet ist.

Der Menschlichkeit beraubt

Aus der Tiefe dieses offenen dunklen Raumes holt sie Michael Thalheimer einen nach dem anderen hervor, stellt sie nah an die Rampe in grelles Licht getaucht, damit wir auch ja sehen können, wie die Kleinbürger als Folge des wirtschaftlichen Ruins langsam ihrer Persönlichkeit und Menschlichkeit beraubt werden. Mit wenigen Requisiten ganz auf die Darstellungskunst seiner großartigen Schauspieler des Deutschen Theaters vertrauend, skizziert er Ödön von Horváths Menschen als Charaktermasken, ihre zwischenmenschliche Minidramen, die Jagd nach ein bisschen Glück, als abgründiger Reigen der Niedertracht. Am Ende alles schlecht. Denn in schlechten Zeiten wird selbst die Liebe zur finanziellen Transaktion - und koste es das Leben.

Erschöpft wird Marianne (wunderbar: Katrin Wichmann), die sich ebenso tapfer wie vergeblich gegen die vom egoistischen Vater verordnete Versorgungsheirat stemmte, ihr berühmtes "Jetzt kann ich nicht mehr“ hauchen, worauf sich für den Blutwurstfabrikanten Oskar - aus dem der großartige Peter Moltzen nicht einfach einen brutalen Sauabstecher macht, sondern dessen Gefühlsroheit Teil seiner Einfalt ist - nur erfüllt, was er ihr einst Furchtbares prophezeit hatte: "Marianne, du wirst meiner Liebe nicht entgehen.“ Anders als die Trafikantin Valerie (Almut Zilcher), eine im Dasein sich verbiegende Mitsechzigerin mit einem Zug ins Ordinäre, die illusionslos gegenüber dem dreckigen Lauf der Dinge nimmt, was sie (an handfester männlicher Aufmerksamkeit) noch abbekommt, ist Marianne nach gut zwei Stunden wie die Spielzeugzinnsoldaten, die sie im Geschäft des Vaters einmal verkauft hatte: eine "Schwerverwundete“, "Gefallene“. Zuletzt hängt auch sie sich jenen Pappkarton vors Gesicht, der schon alle anderen Figuren entstellt. Eine Charaktermaske, der der Charakter ausgetrieben wurde, eine entindividualisierte, verdinglichte Kreatur, auch sie.

Nachricht eines Unglücks

Von noch radikalerer Art ist der szenische Minimalismus, mit dem der greise französische Theaterregisseur Claude Régy (geb. 1923) den selten gespielten Einakter "Intérieur“ des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862-1946) mit japanischen Schauspielern in Szene gesetzt hat. Auch hier ist die Bühne gänzlich leer, zweigeteilt durch ein schwaches Licht, das die Bühne in einen dunklen Vordergrund und einen etwas helleren hinteren Bereich teilt. Hier agieren die Darsteller, die kaum als Charaktere zu bezeichnen sind, mit minimalen Gesten. Unendlich langsam und still schieben sich fünf Gestalten auf den hinteren Teil der Bühne, ein Frau legt ein Kind schlafen, die anderen vereinzeln sich in der Szene. Dann noch langsamer erscheinen zwei, drei Gestalten auf dem vorderen Teil der Bühne und beobachten die anderen.

Was in Japanisch gesprochen wird (Übersetzung: Yoshiji Yokoyama) klingt feierlich, kaum wie ein Dialog, sondern vielmehr wie eine Litanei. Dem Sprachgesang sind Laute beigemischt, die als fortwährendes Seufzen und Klagen erscheinen.

Kein Wunder, denn das 1894 geschriebene, für ein Marionettentheater konzipierte Stück gehört zu einer Gruppe von Einaktern, die den Tod zum Gegenstand haben, der als das Unaussprechliche im Dialog umkreist wird. Maurice Maeterlinck gehörte damals zu jenen Dichtern, deren Thematisierung innerer Vorgänge schließlich zu jener Krise des Dramas geführt hat, wie sie der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in seiner "Theorie des modernen Dramas“ (1956) beschrieben hat. Dort heißt es über Maurice Maeterlincks frühe dramatische Werke, in ihnen würde "einzig der Moment erfasst, in dem der wehrlose Mensch vom Schicksal ereilt wird.“ Und dieses Schicksal ist der Tod. Daher gibt es in "Intérieur“ so wenig Handlung, vielmehr schildert Maurice Maeterlinck eine Situation, weswegen er den Einakter treffend als "drame statique“ bezeichnet hat.

Die Situation ist die: Fremde stehen im Garten vor einem Haus. Durch ein erleuchtetes Fenster beobachten sie eine Familie, ein Mann, eine Frau, zwei Töchter und ein Kleinkind. Ein Mitglied dieser Familie, die dritte Tochter, ist ertrunken, freiwillig ins Wasser gegangen. Der eine Fremde, der Alte, soll der Familie die furchtbare Nachricht des Unglücks überbringen. Das Stück besteht gänzlich daraus, was für Empfindungen da sind, bevor der Alte (eine Allegorie des Todes) das Haus betritt, um seine Mitteilung zu machen, für die es kaum Worte gibt.

Claude Régys Inszenierung ist ungemein ästhetisch, verlangt aber viel Geduld, Konzentration und eine Portion Neugierde. Wer sich für die Sphären des Unsagbaren, des bedeutungsschwanger Unverständlichen interessiert, findet hier reichlich Gelegenheit.

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