Mit einer Ästhetik der Verschleierung

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Essays, Erzählungen, Reportagen und Gedichte von Franz Tumler aus den Jahren 1946-1991 bietet der Band "Hier in Berlin, wo ich wohne". Tumler gelingen dichte Miniaturen, in seinen Texten wird aber nicht nur hingeschaut, sondern auch viel weggesehen.

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Essays, Erzählungen, Reportagen und Gedichte von Franz Tumler aus den Jahren 1946-1991 bietet der Band "Hier in Berlin, wo ich wohne". Tumler gelingen dichte Miniaturen, in seinen Texten wird aber nicht nur hingeschaut, sondern auch viel weggesehen.

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Franz Tumlers Sätze seien unverbraucht, "verstörend und großartig". Mit diesem Kritikerurteil bewirbt der Verlag den Band "Hier in Berlin, wo ich wohne". Über weite Strecken überwiegt beim Lesen allerdings die Verstörung, über die auch das Nachwort des Herausgebers nicht hinweghilft. Tumlers NS-Verstrickung wird hier nur insofern erwähnt, als er in Berlin 1940 den NS-Dichterpreis entgegennahm für sein Buch "Der Soldateneid", das Alfred Rosenberg Hitler als eines der zehn "wertvollsten Bücher aus dem schöngeistigen Schrifttum unseres Volkes" empfahl.

Leichtes Unbehagen

Die in Berlin überreichte Ehrung stellt die Verbindung her, denn der Band bringt chronologisch geordnet Tumlers Texte über seine Wahlheimat, wo er ab Mitte der 1950er-Jahre bis zu seinem Tod 1998 lebte. Da das diesbezügliche Konvolut mit den vielen Fassungen der einzelnen Aufsätze sehr umfangreich ist, so der Herausgeber, können Textgenese, Publikationsgeschichte und Auswahlkriterien nicht im Einzelnen dargelegt werden. Das ist für eine Leseausgabe verständlich, lässt aber zusammen mit dem Zeitschnitt 1945 doch ein leichtes Unbehagen zurück. Auch die Entscheidung für den Abdruck nach der letzten Fassung ist legitim und ruft vor dem Hintergrund der politischen Vorgeschichte des Autors doch Misstrauen hervor -zumal da aktuell an allen Ecken daran gegangen wird, NSbelastete Akteure "neu", und das heißt meist entschuldigend, zu betrachten, wie zuletzt die Gustav Ucicky-Retrospektive des Filmarchivs gezeigt hat.

1945 jedenfalls bedeutete für Tumler, Parteigenosse seit 1934, noch keinen ideologischen Einschnitt, das ist aus dem vorliegenden Band herauszulesen. "Die Zeit der Einsicht" ist der Titel des ersten Textes, geschrieben 1946 und klugerweise erst 1952 veröffentlicht, denn von Einsicht im Sinn eines politischen Schuldbekenntnisses oder auch nur einer Irritation seiner Position ist darin keineswegs die Rede. 1946, als Entnazifizierung noch ernster genommen wurde, wäre den Zeitgenossen die eine oder andere Formulierung noch aufgestoßen, die 1952 im Zeichen des Kalten Krieges niemanden mehr erschütterte.

Er dürfe, schreibt Tumler 1946, "den äußeren Dingen nicht zuviel Einfluß auf den inneren Kern der Person gestatten", einer "Macht, die im allgemeinen wirkt, mich anzuvertrauen, bin ich nicht fähig [...]. Ich bin mit der Schicksalsmacht in einem tieferen Grunde einverstanden und kann einem menschlichen Plan, den Geschicken zu steuern, kein Zutrauen schenken." Er habe gelernt, "daß die Menschlichkeit das einzige Gut ist, das mir in meinem Rang zu verteidigen zukommt, und daß mich nur das ehrenhafte Gewissen rechtfertigen kann". Dass "eine veränderte Welt" begonnen habe, "jedem von uns Strafen auszuteilen für Dinge, von denen wir entweder niemals gehört oder denen wir längst abgesagt hatten", berge die Gefahr, dass "jenen alten Meinungen jeder Grund und jede Ehrenhaftigkeit überhaupt abgesprochen wurde". Das sind unmittelbar nach dem Sturz des NS-Verbrechensregimes, das Tumler mit seinem Verhalten mitgetragen hat, doch problematische Sätze - zumindest Ignoranz gegenüber den Opfern der Shoah.

Noch um einiges entlarvender ist der Bericht "Ein kurzer Besuch in München" aus dem Jahr 1952. Die Deutschen, deren große Staaten Preußen und Österreich waren, heißt es da, "sind ein nach innen gekehrtes Volk, dem der Umstand, daß es Macht entfalten soll, die Seele verstört", sie "bleiben in ihrem Unglück das am tiefsten aufgewühlte Volk der Erde. [...] Werden sie je zu einer ersten Rolle kommen, auf die hin sie angelegt sind, die ihnen aber durch ihre mißliche Geschichte vorenthalten worden ist"? Oder droht ihnen gar eine "Zersetzung des volkhaften Bestandes"?

Das sind keineswegs die übelsten Zitate, mit denen Tumler hier die Deutschen im Kalten Krieg als "Mittler" zwischen Ost und West in Stellung bringt. Und immer wieder registriert er bei zufälligen Begegnungen, wie "freundlich und redlich" die Deutschen seien, wie in ihnen "Kraft und Ruhe unangetastet geblieben sind".

Erste "Evidenz der Erinnerung"

Tumlers Stärke, so wird Peter Demetz im Nachwort zitiert, sei "seine Fähigkeit, die Wahrheit über Menschen und Dinge zu sagen, von Fall zu Fall prüfen; und wo es so schwierig geworden ist, das Wirkliche in der Beziehung der Menschen zu erfassen, sucht er Genauigkeit und Unbestechlichkeit in der ersten Evidenz der Erinnerung."

Auch wenn das grammatisch unscharf zitiert sein mag, lässt sich dieser Befund mit den hier abgedruckten Texten nicht immer zusammendenken. Die Deutschen, so Tumler noch 1953, haben durch die "Kette der Leiden" einen "unverwechselbaren Zug historischer Würde" bekommen. Eine korrekte "Evidenz der Erinnerung" hätte doch zur historischen Wahrheit führen müssen, bei der nur die Schuld des NS-Regimes "unverwechselbar" ist, während die "Kette der Leiden" bei den überfallenen Ländern und den aus politischen wie rassistischen Gründen Verfolgten und Ermordeten doch deutlich länger geraten ist.

Das ist gewissermaßen der Schatten oder das innere Licht, das über diesen Berlin-Texten bis in das Jahr 1962 liegt, die etwa 90 Prozent des Bandes ausmachen. Unbestritten gelingen Tumler immer wieder dichte Miniaturen über das Alltagsleben der Berliner und ästhetisch hoch aufgeladene Bilder der zerstörten und geteilten Stadt, aber das, was Tumler mit seiner Vorstellung der "Netzhautbilder" zu fassen bekommt, enthält bei allem genauen Hinsehen auf die groteske Ruinenlandschaft rundum immer ein implizites Wegsehen: von der Gewordenheit des Vorgefundenen und den Vorgeschichten, der eigenen wie der des Landes. "Da gehen die Gedanken hinter das Bild", heißt es nach einer beeindruckend formulierten Stadtansicht, doch das bleibt in fast allen diesen Texten letztlich uneingelöst. Sein latentes Unbehagen formuliert Tumler selbst in dem hier erstveröffentlichten Typoskript "Die letzten Wochen vor Weihnachten", wo er 1962 Dinge nur für sich notiert, in der Hoffnung, "auf die Art echter" zu werden, was ihm nicht gelingt.

Trotzdem lohnt die Lektüre. Ein Desiderat bleibt freilich eine wachsame Sprachanalyse dieser eigenwilligen Mischung aus Beschreiben und Verschweigen, gerade bei einem sprachmächtigen Autor wie Franz Tumler. Manche seiner stilistischen Eigenheiten scheinen aus diesem inneren Zwiespalt heraus erklärbar. "Das abgefallene Laub, durch das der Schritt geht", heißt es in unverfänglichem Zusammenhang mit einer typisch schräg angespielten Perspektive, die durch eine Verschiebung des handelnden Subjekts - nicht der Mensch geht hier, sondern seine Schritte - einen poetischen Mehrwert erzeugt. Dasselbe Bauprinzip erhält eine andere Tönung, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus geht.

"Mit gewissen Dingen aus dieser Zeit sich hier nicht zu befassen, habe man sich doch ein für allemal entschlossen!" So ist über einen deutschen Vertriebenen aus dem Osten zu lesen, der von 1939 bis 1945 Bürgermeister war. Das zeigt im Übrigen auch, wie rasch in Berlin die Vertriebenen-Lager die Konzentrationslager genauso flächendeckend überblendeten, wie das in Österreich die Bilder der Kriegsgefangenenlager getan haben.

Nachkriegs-Restauration

Tumler traf mit seiner Technik der verschleiernden Ästhetisierung den Nerv der Nachkriegszeit, als man nur noch vorwärts und gen Osten blicken wollte. Viele der abgedruckten Texte entstanden als Radiofeature für den US-amerikanischen Sender RIAS. Aus seinen Berlin-Texten spricht jedenfalls weniger eine prinzipielle "Skepsis an Wahrnehmbarkeit und Erzählbarkeit", wie es im Nachwort heißt, als die Entschlossenheit, die Klippe der NS-Vergangenheit auf eine Art zu umschiffen, die eine unbedenkliche Oberfläche erzeugt. Das ergibt einen fundierten Einblick in das Funktionieren der Nachkriegs-Restauration, und alle, die daran - auch aus Gründen persönlicher Schuld - ein existenzielles Interesse hatten, verstanden schon damals das, was heute Networking heißt.

Tumler, seit 1959 Mitglied der Akademie der Künste, verkündete in der abgedruckten Rede auf Gottfried Benn 1962 ohne Zaudern: "er kümmert sich um alles, täuscht sich über nichts". Ein vergleichbar untadeliges Bild hätte Tumler wohl auch von sich selbst gern für die Nachwelt fixiert gesehen. Spätestens nach der Lektüre dieses Buches ist es nicht aufrechtzuerhalten.

Hier in Berlin, wo ich wohne

Texte 1946-1991. Von Franz Tumler Hg. und Nachwort von Toni Bernhart Haymon 2015. 248 S., geb., € 19,90

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