Mit Ensel und Kretel verläuft man sich im Mythenwald

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Walter Moers' neue Fiktionen sind so bibliophil ausgestattet wie weiland Käpt'n Blaubär.

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Walter Moers' neue Fiktionen sind so bibliophil ausgestattet wie weiland Käpt'n Blaubär.

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Ensel und Krete verliefen sich im Wald, es war so finster und auch so bitterkalt ... So weit, so gut, das Märchen kennen wir, so oder so ähnlich. Oder doch nicht? Das neue Märchen spielt nämlich in Zamonien, der Heimat von Käpt'n Blaubär und Professor Nachtigaller. Und der Verfasser des Märchens ist Walter Moers - nein, eigentlich ist er lediglich der Übersetzer, denn geschrieben hat "Ensel und Krete" Hildegunst von Mythenmetz, ein sprachbegabter und mehrere Hundert Jahre alter Kleindinosaurier, der bekannteste Schriftsteller von Zamonien, mit dessen halber Biografie Walter Moers die Allgemeinbildung des Lesers im Anhang bereichert: "Von der Lindwurmfeste zum Bloxberg". Jetzt wird's ein bisschen kompliziert. Aber Walter Moers liebt eben offensichtlich literarische Spielchen aller Art, und diesmal ist es eben ein Versteckspiel mit seinem Publikum.

Abgesehen davon scheint er sich auf halbe Sachen eingeschworen zu haben, was Biografien anlangt, denn von den 27 Leben des Käpt'n Blaubär wurden schließlich auch nur dreizehneinhalb erzählt, und Moers ist ganz sicher: Fortsetzung folgt nicht. Erstens braucht auch ein Blaubär sein bisschen Privatleben und zweitens seien über 700 Seiten für eine Figur genug. Statt neuer Blaubärgeschichten sind aber weitere Zamonien-Romane in Planung, mit anderen Protagonisten, alten Bekannten und neuen Begegnungen. Und ein erster Vorgeschmack davon ist "Ensel und Krete". Der Verlag wirbt für "eine Mischung aus Grimms Märchen und Blair Witch Project", aber das Buch ist ebenso eine Satire auf Auswüchse des Literaturbetriebs und das Zelebrieren von Eitelkeiten mancher Autoren wie eine bissige Darstellung einer sich verbiedernden Gesellschaft, die in ihrem Streben nach Ordnung und Sauberkeit totalitäre Züge angenommen hat. Ein Diktator auch der fiktive Erzähler: mit dem genialen Kunstgriff der "Mythenmetzschen Abschweifung" betreibt er eine Fortsetzung der Publikumsbeschimpfung in Form von Publikumsunterdrückung. Das Erzählen wird als Machtausübung erkannt, der Autor als Schöpfer und Lenker der Geschicke, berauschend und - das ist bei Moers garantiert - durchaus amüsant.

Seine Kapriolen sind so offensichtlich von Phantasie und kindlichem Drang zum Spielen inspiriert, dass sie niemals verkrampft wirken, so weit er sich auch in seinen Anspielungen auf Politik oder Philosophie einlässt. Und selbstverständlich ist das Buch mit den liebevollen Illustrationen des Autors auch wieder ebenso bibliophil wie der "Käpt'n Blaubär". Zamonien ist übrigens längst nicht mehr nur zwischen Buchdeckeln oder hinter Dimensionslöchern zu finden: unter www.zamonien.de ist Prof. Dr. Abdul Nachtigallers legendäre Nachtschule für alle Interessenten zugänglich - dies vielleicht die auffälligste Verwandtschaft mit "Blair Witch Project". Dem "Mythenmetz" Walter Moers ist es gelungen, moderne Mythen zu schaffen, die eben dabei sind, sich zu verselbständigen, und wir freuen uns bereits auf die nächsten Geschichten aus Zamonien.

Ensel und Krete Ein Märchen aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz, aus dem Zamonischen übertragen von Walter Moers, mit Erläuterungen aus dem Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder, Phänomene und Daseinsformen Zamoniens und Umgebung von Prof. Abdul Nachtigaller.

Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2000, 257 Seiten, geb., illustriert, öS 291.-/e 21,15

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