Mit Erzähllust und -kunst wider die Pest

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Vor 700 Jahren wurde Boccaccio, der Dichter des "Il Decamerone“, geboren. Auch heute noch wird sein Werk mit viel erkenntnisbereicherndem Vergnügen gelesen.

Seine Bekehrung zur Liebe fand in einer Kirche statt. Sogar Tag und Stunde sind überliefert. Es war der Ostersamstag 1338, als der junge Giovanni Boccaccio am Abend in der Messe der Chiesa San Lorenzo zu Neapel die schöne Maria aus dem Geschlecht der Grafen Acquino sah. Sogleich entbrannte er in leidenschaftlicher Liebe zu ihr. Die Flamme loderte hoch, doch der 25jährige Amante nannte die Unbekannte seine "Fiammetta“, die kleine Flamme, wohl weil die Begehrte verheiratet war und diese Liebe, wie es zunächst schien, im Verborgenen blühen musste.

Keine Geringere als eine Königstochter wählte Boccaccio als seine Angebetete. Denn die schöne Maria war ein uneheliches Kind Roberts von Anjou, dem König von Neapel. Zwar war sie mit einem Höfling vermählt, doch das hinderte sie nicht, den jungen Dichter, der sich als Freund des Hauses eingeführt hatte, zumindest vorübergehend als Geliebten aufzunehmen. Indes, als sie sich bald darauf einem neuen Favoriten zuwandte, verwandelte sich Boccaccios Leidenschaft in Liebesleid - und löste dem Dichter beredt die Zunge. "Fiametta“ wurde in unzähligen seiner Werke die gepriesene Geliebte, seine Muse, die ihn ebenso beflügelte wie Dante seine angedichtete Beatrice oder Petrarca die verehrte Laura.

Wie Maria aus dem gräflichen Geschlecht der Acquino entstammte auch Giovanni einer unehelichen Verbindung. Tag und Ort seiner Geburt sind zweifelhaft geblieben. Mancher Überlieferung zufolge soll sein Vater Boccaccio de Chellino, der sich als Kaufmann und Diplomat im Auftrag des Florentiner Bankhauses der Bardi in Paris aufgehalten hatte, dort eine folgenreiche Liebesbeziehung mit einer verwitweten Adeligen namens Jeanne eingegangen sein.

Schon früh berühmt

Doch in Neapel eröffneten sich für ihn nicht nur die Wonnen der Liebe und ihr Schmerz, sondern auch die reichhaltigen königlichen Bücherschätze. Boccaccio vertiefte sich in die Werke der antiken Autoren ebenso wie er die Dichtungen Dantes und Petrarcas lieben lernte. Beide Bahnbrecher der italienischen Literatur sind ihm zeitlebens bewunderte und unerreichte Größen geblieben.

Dabei stellte sich bei Boccaccio, der sich nun ganz der Dichtkunst widmete, früh schon großer Ruhm ein. Besonders der Liebesroman "Filocolo“, das erste Prosawerk auf Italienisch, machte ihn als Erzähler beliebt. Da war er, gegen Ende des Jahres 1340, auf Wunsch des Vaters längst wieder daheim in Florenz. Im Auftrag der Signoria übernahm er diplomatische Dienste, sprach als Gesandter auch in anderen italienischen Stadtstaaten vor. Und unaufhörlich schrieb er: Nymphen- und Hirtengedichte, allegorische Erzählungen, Prosasatiren. Vor allem aber, in Anlehnung an Motive von Ovid: Liebesgeschichten, gereimt und ungereimt.

Dann wütet 1348 die Pest in Florenz, rafft Zehntausende der Einwohner hin, darunter auch Boccaccios Vater. Der Sohn ist nicht in der Stadt, als die Seuche ausbricht. Gleichwohl überträgt sich die Erschütterung durch die Todesangst einer ganzen Kommune auch auf ihn. Nun bricht sich in Boccaccio nicht mehr das angelesene Wissen der Dichtkunst Bahn, sondern die unmittelbare Erfahrung einer regionalen Tragödie. Er beginnt 1349 mit der Abfassung seines Meisterwerks "Il Decamerone“: erzählte Komik als Gegenwehr zu der erlebten Tragik.

Die Rahmenidee ist so schlicht wie wirksam: Um sich vor der bedrückenden Gefahr der Pest in Sicherheit zu bringen, suchen zehn junge Leute, im Widerstand gegen den allgegenwärtigen Tod, auf einem Landgut Zuflucht. Die verschworene "heitere Schar“ ("lieta brigata“) - sieben Frauen und drei Männer - richtet sich in ihrer pastoralen Idylle friedlich ein und beschließt, zehn Tage lang mit einem Erzählfest von täglich zehn Liebes- und Lustgeschichten das gerettete Leben zu feiern. Am Ende ergibt das hundert Novellen: das "Decamerone“ ist wörtlich ein "Zehntagewerk“.

Mit großem narrativen Elan wird darin die Literatur als Überlebensmittel eingeführt. In solch existenzieller Ausnahmesituation herrscht eine ganz diesseitig nützliche Moral vor, in der Täuschung und Selbsttäuschung, Verlogenheit, Gier, Scheinheiligkeit oder Ämteranmaßung an den Pranger gestellt und profaner Hoch- wie klerikaler Übermut gleichermaßen einer unerschöpflichen Spottlust preisgegeben werden. Freimütig werden die erotischen Begehrlichkeiten von Mann und Frau, von Adel, Patriziat, Bürgern, Bauern und Kirchenleuten aufgespießt, ohne einer falschen Scham oder Verstellung zu verfallen. Im Gegenteil: Die Sinnenfreude der Zeit wird mit besonderer Drastik geschildert, um die Enge von Bigotterie und Heuchelei zu sprengen.

Die beißendste Kritik bekommt das päpstliche Rom ab: Kirchensatire ohne Glaubenszweifel. So kehrt etwa ein Jude, der zum Christentum übertreten und deshalb die Papststadt inspizieren möchte, entsetzt ob der korrupten Zustände aus Rom zurück. Er konvertiert dennoch: Wo der Glaube über soviel verrottete Sitten obsiege und sich trotz solcher Kirchenführung immer weiter ausbreite, müsse der Heilige Geist übermächtig sein, meint er.

Ein beredtes Sittenbild

Von dem Vielen, was so zeitnah wirkt an dieser Erzählkunst, fällt uns heute vor allem auf: Boccaccio schenkt seinen Lesern die Gefühle, Begehrlichkeiten, List- und Lustansprüche selbstbewusster Frauen - und das in tief patriarchalischen gesellschaftlichen Umständen. Und: Am Ende rettet die Liebe zehn Leben, und den Anstoß dazu geben sieben Frauen.

Warum liest man ein solches Werk noch immer? Warum auch heute noch mit so viel die Erkenntnis bereicherndem Vergnügen? Bücher kommen, Bücher gehen, die Klassiker bleiben: Weil sie eine unerschöpfliche Vorratskammer menschlicher Erfahrung bereithalten. Weil sie nicht lügen und uns mit oberflächlichen Mutmaßungen über das Persönlichkeitsbild ihrer Handlungsträger oder die sozialen und erotischen Zusammenhänge der überlieferten Geschichte abspeisen. Sondern weil sie tief eindringen in die Abgründe und Geheimnisse der Natur des Menschen.

Boccaccio, der nach einem wechselvollen Leben 1375 auf seinem Gut Certaldo nahe Florenz starb, erlebte die Perhorreszenz seines Hauptwerks durch die Kirche nicht mehr, die nach dem Konzil von Trient (1545-63) jahrhundertelang anhielt.

Heute existiert das "Decamerone“ in mannigfachen Fassungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt. Wer zu der neuesten Übersetzung von Peter Brockmeier bei Reclam greift, wird mit philologischer Genauigkeit und Akkuratesse bei weitgehendem Mangel an stilistischer Würze bedient. Und er handelt sich eine so kleine Druckschrift ein, dass die Augen schmerzen. Die eingefügten Holzschnitte von 1492 sind gleichfalls Miniaturen in Briefmarkengröße. Schade.

Das Decameron

Von Giovanni Boccaccio

Übersetzt von Peter Brockmeier

Reclam Bibliothek 2013.

1070 Seiten, gebunden, € 30,80

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