Mit poetischem Glauben DANTE LESEN

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Er beeinflusste Jahrhunderte lang nicht nur Dichtung, Malerei und Musik. Vor 750 Jahren wurde mit Dante Alighieri einer der bedeutendsten Dichter geboren.

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Er beeinflusste Jahrhunderte lang nicht nur Dichtung, Malerei und Musik. Vor 750 Jahren wurde mit Dante Alighieri einer der bedeutendsten Dichter geboren.

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Samuel Beckett trug die ersten Jahrezehnte seines Schriftstellerdaseins ständig eine Ausgabe in der Westentasche mit sich. Bei seinem letzten Interview im Altersheim 1989 antwortete er auf die Frage nach seinen nächsten Projekten: "gemütlich im Sessel sitzen, furzen, Cricket Spiele gucken und Dantes 'Commedia' verstehen". Es wäre sicher lohnenswert, Becketts zum Teil sehr rätselhafte Werke einmal unter diesem Aspekt zu betrachten. Alban Bergs Hinterlassenschaft auf seinem Schreibtisch verzeichnet ein dickes Buch, das aufgeschlagen bereit liegt. Nicht Wedekinds "Erdgeist/Die Büchse der Pandora"(die Arbeit an seiner Oper "Lulu" hatte Berg schon lange vorher aufgegeben), sondern Dante. Was hatte er damit vor? Franz Liszts Lektüre von Dante hat in mehreren Kompositionen ihren nachhaltigen Niederschlag gefunden. Lorenzo da Ponte hat, nach eigenen Angaben, während der Arbeit am Finale zu "Don Giovanni" nebenbei die ganze Nacht Dante gelesen.

Dererlei Bespiele gibt es unzählige. Aber allein Hinweise auf Zitate und Paraphrasen im abendländischen Kulturkanon werden seiner Bedeutung nicht gerecht. Dante hat mit seinem Werk Einfluss und Wirkung zu allen Zeiten und in allen Sparten erzielt. Dies bezieht sich vor allem auf sein Hauptwerk, die "Commedia" oder das "poema sacro" wie er es selbst genannt hat. Hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, denn auch seine "Vita Nuova", eine Art Gedichtroman im Wechsel von Prosa und Vers-Texten über Glück und Schmerz der wahren Liebe, hat die Jahrhunderte nicht nur überdauert. Die Anzahl der Werke im Bereich der Dichtung, Malerei und Musik über ihn oder von ihm beeinflusst sind Legion. Aber seinen Einfluss in der abendländischen Kultur auf das rein Künstlerische zu beschränken, wird seiner Bedeutung auch nicht gerecht.

Von der Unordnung zur Ordnung

"In Dante", sagte der schottische Historiker Carlyle (1795-1881), "haben zehn schweigende christliche Jahrhunderte eine Stimme gefunden". In der "Commedia" wird der Universalismus und das Primat der Theologie des lateinischen Mittelalters als großes Welttheater ein letztes Mal abgefeiert. Egon Friedell schreibt in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit: "Ist die kompetenteste Geschichtsdarstellung, die wir bis zum heutigen Tage vom Mittelalter besitzen, nicht Dantes unwirkliche Höllenvision? Wenn vom Mittelalter nichts übrig geblieben wäre als Dantes Gedicht, so wüßten wir alles, was wir von dieser geheimnisvollen Welt wissen können."

Das klingt bedeutend und interessant, aber Dante ist mehr als das. In seiner "Commedia" - das Epitaph "divina" stammt von Giovanni Boccaccio (Autor des "Decamerone"), dem ersten Biographen Dantes -erzählt Dante von seiner nicht ganz freiwilligen Reise durch die drei Reiche des Jenseits, als authentischer Bericht eines Menschen, der von der Unordnung - seiner eigenen wie derjenigen der Welt -zur Ordnung findet. Beatrice, die große Liebe seines Lebens, die auch in "Vita Nuova" die zentrale Figur ist, hat aus dem Himmel nach ihm geschickt und ihm den Dichter Vergil als Führer beigegeben. Damit will sie ihn, der "den rechten Weg verloren hatte", vor der drohenden Verdammnis retten. Gemeint sind Dantes Verstrickungen in die chaotische Politik seiner Zeit.

Er durchwandert das "Inferno", in dem die Verdammten nach genauem Wägen ihrer Schuld in neun Kreisen büßen. Er schreibt voller Zorn auf seine Welt, sein Florenz, das ihn verbannt hat, und einige seiner Gegner. Aber nicht ohne Mitgefühl und Empathie für die verlorenen Seelen, die teils grauenvolle Strafen zu erdulden haben. In der Regel müssen sie ihre Übeltat immer wieder von Neuem begehen, sind gleichsam "rasend im Stillstand", da sich ihre Situation in alle Ewigkeit nicht ändern wird (Beckett schreibt als letzte Regieanweisung in "Warten auf Godot":"Sie laufen, aber sie legen keinen Weg zurück").

Im "Purgatorio", das mit der christlichen Vorstellung vom Fegefeuer fast nichts gemein hat, durchwandert er ein dynamisches System von Bußen, die nach den sieben Todsünden - Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Geiz, Völlerei und Wollust - strukturiert sind. Der Ton in diesem Teil wird heller, poetischer und ist geprägt von Philosophie und Erkenntnis. Eine der großartigsten Stellen im ganzen Werk ist in der Rede eines Büßers im Kreis der Zornigen über den freien Willen: "Der höchsten Macht und der besseren Natur /Seid frei ihr unterworfen; und diese schafft /In Euch den Geist, den nicht die Sterne lenken."(Purgatorio XVI, 79-81)

Säulenheiliger des Italienischen

Manchmal ist ein Paradoxon die überzeugendste Erklärung. Im irdischen Paradies, am Ende des Purgatorio, wird der Wanderer von Beatrice selbst übernommen. Und die, vom Autor wie vom Leser, lang ersehnte Begegnung mit der großen Liebe ist mehr als überraschend. Beatrice beginnt mit den Worten "Dante! du wagst dem Berge dich zu nahen?"(Purgatorio XXX, 74) eine Schimpf- und Strafpredigt, die sich gewaschen hat. Das ist großes Theater, meisterhafte Dramaturgie, "maximale Wirkung!"(Ja, selbst ein Otto Baric-Zitat hat hier Berechtigung.) Geläutert und mit befreitem Willen wird Dante von Beatrice im Paradiso durch die neun Spähren der Seligkeit geführt. Der schönste und schwierigste Teil, wem es aber gelingt, das zu genießen, der findet Labsal in diesen Gesängen. Am Ende, im Empyreum, beschreibt Dante in wunderbaren Versen die Unmöglichkeit, das Höchste zu beschreiben, und gibt dem, was dem prosaischen Verstand nicht fassbar ist, seine poetische Gestalt.

Das ist großartig, aber das ist noch nicht alles. Dante schreibt sein großes Versepos in Volkssprache, in "eloquentia volgare" um es auch den Schichten der Bevölkerung zugänglich zu machen, denen "die Sonne des Latein nicht leuchtet". Nicht umsonst gilt Dante als Säulenheiliger der italienischen Sprache, hat er sie doch gleichsam in Schriftsprache erfunden. Er schreibt in toskanischer Volkssprache, ergänzt diese aber durch Wörter aus dem Provenzalischen, aus Altgriechisch und Latein, um trotz der Volksnähe dem hohen Stil der antiken Dichtungen nicht nachzustehen. Er ist durchdrungen vom christlichen Glauben, aber er füllt diesen Glauben in seinen Erzählungen mit menschlicher Wärme und Empathie. Sein auffälligstes Charakteristikum ist, nach Carlyle, die "Intensität".

Und er ist der erste Dichter, der große Themen in einem Epos in Ich-Form erzählt. Wie kein anderer vor ihm - und eigentlich auch nach ihm - stellt er die eigene Person als Liebender und Leidender, Irrender und Lernender, Sünder und Büßer in den Mittelpunkt seines Werkes. Text und Inhalt sind nicht einfach und ohne Kommentar fast gar nicht zu verstehen. Aber im Verlauf der Weltenwanderung finden sich in den einzelnen Episoden immer wieder immanente Aussagen, symbolhafte Darstellungen und Begründungen, die viele Probleme des Mensch-Seins zeitlos gültig erläutern und beantworten.

Aspekte des Daseins verstehen

"Weil eure Sehnsucht sich auf Dinge richtet / Die durch Teilung sich nur vermindern können, bläst der NEID den Blasbalg zu euren Seufzern." (Purgatorio XV, 49-51). Ist das nicht ein großartiges Statement zu heutigen Problemen wie beispielsweise der Finanzkrise im allgemeinen und der Hypo Alpe Adria im Speziellen? Es gibt kaum einen Aspekt des menschlichen Daseins, der nicht durch eine Stelle oder ein Zitat aus seinem Werk kommentiert oder gar erläutert werden kann. Auch wenn viele dieser Aussagen und Maßregeln im christlichen Glauben wurzeln, so ist Gläubigkeit keine Voraussetzung zum Verständnis oder zur Bejahung des Werkes. Man soll sich den Visionen Dantes mit "poetischem Glauben", wie Jorge Luis Borges sagt, ausliefern, einem poetischen Glauben, der "eine freiwillige Aufhebung des Unglaubens" ist. Bei Dante ist alles so lebendig, dass man schließlich annimmt, er habe an seine andere Welt geglaubt.

Die wahre Bedeutung Dantes wird sich aber nur dem erschließen, der sich seinem Werk als Leser nähert. Wagen Sie die Begegnung mit dem dantesken Kosmos, vermeiden Sie dabei aber Elaborate wie Dan Browns "Inferno"; das hat mit Dante so viel zu tun wie ein Billigsdorfer Fertiggericht mit Haute Cuisine. Da Altitalienisch nicht jedermanns Sache ist, kann man guten Gewissens auch mit einer deutschen Übersetzung beginnen. Vermeiden Sie aber Reimübersetzungen! Das Deutsche hat nicht genug Vokale, um die gereimten elfsilbigen Terzinen sinnvoll zu gestalten. Vermeiden Sie aber auch reine Prosaübersetzungen. Die Beibehaltung des Versmaßes ist für das Verständnis ebenso erheblich wie die richtige Wortwahl. Das ergibt einen musikalischen Lesegenuss, wenn man Dantes "Groove" in sich hinein schwingen lässt. Meine Empfehlung: die alte Reclam-Ausgabe von Herman Gmelin. Der Text ist weitgehend getreu, der unabdingbare Kommentar kurz und effizient.

Es bedarf seitens des Lesenden einiger Hingabe, die aber reich belohnt wird. Die "Göttliche Komödie" ist höchst menschlich.

Der Autor ist Komponist und musikalischer Leiter; er hat Dantes Werk in der Projektreihe COM.MEDIA als multimediales Musiktheater auf die Bühne gebracht.

Die Göttliche Komödie

Von Dante Alighieri

Übers. von Hermann Gmelin

Anm. v. Rudolf Baehr, Nachw. v. Manfred Hardt

Reclam 1986 565 S., kart. € 10,30

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