Mit Volldampf in die Hyper-Historie

Werbung
Werbung
Werbung

Leben ist das, was dir passiert, während du gerade dabei bist, andere Pläne zu machen", sang einst John Lennon. 25 Jahre später gibt man sich mit einer solchen Einsicht nicht ganz zufrieden. "Wir müssen die Zukunft gestalten, bevor sie passiert", heißt es nun anlässlich eines Manifests zu den Auswirkungen der neuen Informationstechnologien: In dieser Grundsatzerklärung gehen europäische Forscher von drastischen Folgen der "Hypervernetzung" aus, die unser ganzes "Menschsein" erfassen. Denn Technologien wirken stets formend auf die Menschen zurück - heute scheint das mehr denn je der Fall zu sein. Um auf diese Entwicklung zu reagieren, sei es erforderlich, mit einer neuen Art des Denkens "das Schiff auf offener See umzubauen". Dieses Bild hat der Wiener Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath in den 1930er-Jahren geprägt; jetzt wird es für die Begriffs-und Konzeptarbeit im Computer-Zeitalter herangezogen.

Das so genannte "Onlife-Manifest" ist das Resultat eines Forschungsprojekts der Europäischen Kommission, an dem unter anderem Hirnforscher und Informatiker, Rechts-und Politikwissenschafter, Psychologen und Soziologen beteiligt waren (siehe Kasten). Als Herausgeber ist der italienische Philosoph Luciano Floridi, Professor für Informationsethik an der Universität Oxford, federführend -ein Mann, der gern in großen Bögen denkt: Die aktuellen technologischen Umwälzungen bezeichnet er als "vierte Revolution" in unserem Menschenbild, denn nach den bahnbrechenden Erkenntnissen von Kopernikus, Darwin und Freud werfe heute die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Maschine ein neues Licht auf unser Selbstverständnis. Und auch der Lauf der Geschichte sei an eine Schwelle gekommen:

kein Epochenwandel, sondern ein wahrer "Zeitenbruch" - vergleichbar jener Phase, als im vierten Jahrtausend vor Christus die Schrift erfunden wurde und damit der Übergang von den prähistorischen in die historischen Gesellschaften besiegelt war. In vergleichbarer Weise führe die digitale "Hypervernetzung" heute in eine neue Ära der "Hyper-Historie".

Aktuelle Generationenkluft

In hyperhistorischen Gesellschaften, so Floridi, ist die elektronische Kommunikation und Datenverarbeitung bereits zu einer notwendigen Bedingung für das soziale Wohlergehen geworden. Die exponentielle Zunahme neuer technischer Erfindungen und Anwendungen eröffnet dabei eine rasant wachsende Kluft zu den künftigen Generationen, ist der Philosoph überzeugt: "In 50 Jahren könnten uns unsere Enkel als die letzten der 'historischen Generationen' betrachten, durchaus ähnlich wie wir heute indigene Stämme aus dem Amazonas sehen, in denen wir die allerletzten Überbleibsel der prähistorischen Gesellschaften erkennen."

Vernetzte Verantwortung

Mit dem großen Bogen zur "Hyper-Historie" ist man auch schon mitten bei den neuen Begriffen angelangt, die das Manifest zu überdenken gibt, um nicht unvorbereitet dem Einfluss der technologischen Entwicklung ausgesetzt zu sein -bevor diese weiter fortschreitet und die Struktur unserer Gesellschaften tatsächlich von Grund auf verändert. So zumindest lautet die Zielsetzung des "Onlife-Manifests". Denn das herkömmliche Begriffsinventar sei nicht mehr geeignet, um mit den neuen Herausforderungen umzugehen. In der alles durchdringenden Infosphäre erscheinen die Menschen nun als "Informationsorganismen", die mit anderen "Informationsakteuren" in Wechselwirkung treten. Die Übergänge zur virtuellen Realität verschwimmen; die Grenzen zwischen Mensch, Maschine und Natur werden zunehmend verwischt. Und die meisten Handlungen hängen nicht mehr nur von Menschen, sondern auch von nicht-menschlichen Akteuren wie etwa Algorithmen, Computer-Hard-und Software ab -ein Befund, der gut zur einflussreichen Akteur-Netzwerk-Theorie des französischen Soziologen Bruno Latour passt. "Paradoxerweise ist es in diesen Zeiten der Wirtschafts-,Finanz-,Politik- und Umweltkrise schwer auszumachen, wer was wann in welchem Maße kontrolliert", heißt es im Manifest.

"Wir müssen anerkennen, dass wir nicht diese völlig autonomen Einzelpersonen sind, die wir zu sein glaubten, sondern meist eingebettet in einem sozio-technischen Netzwerk agieren", erläutert die Philosophin Judith Simon, eine der Autorinnen des Manifests. Damit geht oft ein gefühlter oder auch realer Kontrollverlust einher, weil man nicht mehr genau weiß, wie die Handlungen der beteiligten Akteure abzugrenzen sind: "Deshalb ist auch die Verantwortung in diesen Netzwerken verteilt. Die Verteilung von Handlungsfähigkeit kann man leicht dazu nutzen, um Verantwortung überhaupt abzuschieben -das ist die große Gefahr. Die Idee der Verantwortung bleibt aber weiterhin entscheidend. Daher gilt es, bisherige Konzepte zu überdenken", so Simon.

Im "Onlife-Manifest" wird der digitale Wandel auch auf politischer Ebene reflektiert: Tatsächlich hat die Informationstechnologie bereits alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens transformiert, außer die demokratischen Institutionen, wie der Systemforscher Yiannis Laouris in seinem Beitrag zur "Neuerfindung der Demokratie" erörtert. Für ihn ist das bestehende System der repräsentativen Politik überholt; die Fragen, wie "Onlife-Governance" und demokratische Prozesse im Zeitalter der Hypervernetzung aussehen könnten, werden dabei aber nur ansatzweise beantwortet. "Wir brauchen weitere philosophische Reflexion, um neue Formen des öffentlichen Engagements und der Demokratie zu erwägen", betonte Robert Madelin, Direktor der Digitalen Agenda für Europa, anlässlich der Präsentation des "Onlife-Manifests" im Dezember.

Angriff auf die Aufmerksamkeit

Generell bleiben viele der Forderungen des Manifests vage formuliert; sie bereiten ein Fundament, ohne gleich ein Gebäude hochzuziehen. Unmittelbar relevant erscheint die Sorge um unsere strapazierte Aufmerksamkeit: "Dass Gesellschaften die Aufmerksamkeitsfähigkeit des Menschen schützen, pflegen und nähren müssen", ist eine Einsicht, die heute schon vielerorts reflektiert wird. Denn in der digitalen Wirtschaft sind unsere begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen zu einem heiß umkämpften Gut geworden. Noch nie waren sie dermaßen vielen Reizen und Ansprüchen ausgesetzt wie in der schnelllebigen Welt der "Klicks & Bytes". Das Individuum ist damit rasch überfordert, wie die Autoren diagnostizieren. Darauf deuten epidemisch auftretende Störungen wie Burn-out oder Vorstufen der Online-Sucht hin, geprägt durch das Gefühl ständiger Überlastung oder durch den zeitraubenden Kontrollverlust im Umgang mit den digitalen Medien. Umgekehrt könnte auch der Trend zum Rückzug in das Familiäre, das "Cocooning", als Folge dieser Entwicklung gedeutet werden, denn häusliche Aktivitäten wie Kochen oder Gärtnern untermauern gerade jenes Gefühl der heimeligen Privatsphäre, das sich in der uferlosen digitalen Welt zu verflüchtigen scheint.

Der Schutz der Aufmerksamkeit sollte in die Grundrechte wie die der Privatsphäre und der körperlichen Unversehrtheit eingebunden werden, fordern die Autoren. Wie aber könnte das praktisch funktionieren? "Es gibt etwa die Idee, Technologien auch dahingehend auszuzeichnen, wie effizient sie die Zeit ihrer Nutzer beanspruchen", berichtet Judith Simon. Gefragt wären dann "saubere Technologien" mit zeitsparendem Design. Das Manifest plädiert dafür, der Aufmerksamkeitsökonomie eine "Ökologie der Aufmerksamkeit" entgegenzusetzen. "Das freilich wird schwierig durchzusetzen", sagt Simon. "Denn die Haupteinnahmen in der digitalen Wirtschaft sind die Klicks: 'Daten statt Zahlen' ist hier das gängige Geschäftsmodell, und Aufmerksamkeit ist die Währung, mit der wir bezahlen."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung