Mitteleuropa verschlampt

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Die lang erwartete erste Literaturgeschichte Zentraleuropas: faszinierend in den Zusammenhängen, voll haarsträubender Fehler in den Details und veraltet bereits beim Erscheinen.

Wenn man erklärt, was man darunter versteht, ist Mitteleuropa kein leerer Begriff, und zwischen den Literaturen dieses Raumes gibt es spannende Zusammenhänge, die zumindest im deutschen Sprachraum noch viel zu wenig gesehen werden. Zoran Konstantinovi´c, der Pionier vergleichender Literaturwissenschaft in Österreich, und Fridrun Rinner, Professorin in Aix-en-Provence, haben eine Literaturgeschichte Mitteleuropas seit der Renaissance vorgelegt, die nicht nur neue Sichtweisen der Literaturen Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei, Rumäniens, des südslawischen Raumes sowie weiterer Länder und Gebiete vorlegt, sondern auch die österreichische Literatur in neue Zusammenhänge stellt. Den Generationenroman von Joseph Roth mit anderssprachigen Beispielen aus Mitteleuropa, aber auch mit den "Buddenbrooks" zu vergleichen, Paul Celan neben den ungarischen Lyriker Miklós Radnóti zu stellen, die Bezüge zwischen Karl Kraus, Miroslav KrleÇza und Jaroslav HaÇsek deutlich zu machen, Grillparzer, Stifter, Broch oder Bernhard in mitteleuropäischen Kontexten zu betrachten, eröffnet völlig neue Horizonte. Und wer über Triest und seine Literatur oder die Monarchie-Reminiszenzen in der Literatur Galiziens bereits im Bilde ist, erfährt Neues über Wien in der tschechischen Literatur oder seine Rolle für die ungarische Emigration der Zwischenkriegszeit. Als Österreicher sollte man wissen, wie sich Tibor Déry dreimal auf verschiedene Weise mit dem Februaraufstand 1934 auseinandergesetzt hat.

Dass ein Unternehmen dieser Größenordnung, erstmals versucht, auch blinde Flecken hat, ist klar. Genüsslich aufzuzählen, was fehlt, ist leicht: Péter Nádas nie, Imre Kertész, Aleksandar TiÇsma, Drago JanÇcar nur einmal erwähnt, Sándor Márai zweimal en passant. Schwerer wiegt, dass das Werk bereits bei seinem Erscheinen veraltet ist. Die Autoren haben ihr Vorwort schon im Juni 2000 geschrieben, danach ist das Manuskript offenbar über drei Jahre lang seinem Erscheinen entgegengedämmert. Aus einer Fußnote auf Seite 333 wird klar, dass Sekundärliteratur nur bis 1997 verarbeitet wurde, aber der Schlussstrich muss schon etliches früher gezogen worden sein, denn die jüngste Schriftstellergeneration fehlt fast ganz: Daniela Hodrová, Jáchym Topol, Andrzej Stasiuk - Fehlanzeige. Lang wäre die Liste dessen, was alles ausgeblendet wurde. So ist etwa Karl-Markus Gauß mit keinem Wort erwähnt, und etliche der von ihm entdeckten Autoren auch nicht.

Zitiert wird viel in diesem Buch, aber woher, weiß man nicht, und woher die Übersetzungen stammen schon gar nicht. Bei Namen oder Werktiteln ist den Autoren nicht zu trauen: Péter Esterházys deutschen Buchtitel "Donau abwärts" und einen Gedichttitel von Endre Ady haben sie ins Ungarische rückübersetzt, anstatt den Originaltitel anzuführen (zum Ausgleich ist bei TiÇsma der deutsche Buchtitel falsch). Dass sie zu solchem Unsinn imstande sind, beweist ihre Ungarischkenntnisse, die aber nicht verhindern, dass etwa jeder zweite Titel und auch die wichtigsten Autorennamen bisweilen gravierend falsch geschrieben sind. Und das nicht nur im Ungarischen: Der slowenische Reformator PrimoÇz Trubar hat gelegentlich einen Akzent, der ihm nicht zukommt, bei Ivan Klíma fehlt er immer; bei Zbigniew Herbert geraten Vor- und Familienname durcheinander. Bei rumänischen Wörtern werden diakritische Zeichen verwendet, die diese Sprache gar nicht kennt, im Slowakischen geht es manchmal auch daneben. Ein Verlag mit einem Rest von Selbstachtung müsste dieses fundamental wichtige, aber skandalös schlampige Buch einstampfen und eine korrigierte Neuausgabe vorlegen.

EINE LITERATURGESCHICHTE MITTELEUROPAS.

Von Zoran Konstantinovi´c und Fridrun Rinner. StudienVerlag, Innsbruck u. a. 2003. 510 Seiten, geb., e 53,50

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