Mittelschicht und Mittelmaß

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In Deutschland erhitzt sich der Literaturbetrieb gerade über einen Artikel in der Zeit, in dem ein Mann namens Florian Kessler, Anfang dreißig, Literaturkritiker und selbst Absolvent der Schreibschule in Hildesheim, die Saturiertheit der deutschen Nachwuchsliteratur beklagt. Den Grund für die ästhetische Ödnis sieht er im angeblich homogen bürgerlichen, ja bildungsbürgerlichen Herkunftsmilieu: Lauter angepasste Arztsöhne und Professorentöchter, ihn selbst eingeschlossen, schreiben angepasste Texte und reüssieren damit: "Noch nie hat sich Konformität für sie so sehr ausgezahlt wie heute."

Wen der Kurzschluss zwischen Schichtzugehörigkeit und künstlerischem Wagemut doch ziemlich anachronistisch anmutet, den könnte ein Blick auf die österreichische Literaturgeschichte zugegebenermaßen verunsichern. Waren und sind die wilden Einzelgänger hier nicht alle Autodidakten, Armeleutekinder und/oder Bauernsöhne - wie Thomas Bernhard, H. C. Artmann, Peter Handke, Franz Innerhofer, Josef Winkler? Aber die Gegenprobe mit der in die Wiege gelegten bürgerlichen Bravheit funktioniert einfach nicht: bürgerlich brav wie Ingeborg Bachmann, Elfriede Jelinek, Ernst Jandl, Marlene Streeruwitz, Olga Flor, Clemens Setz? Diese Form von Sozialdeterminismus hat tatsächlich ausgedient: literarische Radikalität und Eigenart verhalten sich weder direkt noch indirekt proportional zu Underdog-Herkunft und Bürgerschreck-Attitüde. Sogar Lehrerkinder sind nicht prinzipiell langweilig.

So gesehen besteht auch für Herrn Kessler noch Hoffnung. Er hat, wie er in schöner Offenheit bekennt, für die Aufnahmsprüfung in Hildesheim Egon Friedells "Kulturgeschichte der Neuzeit" durchgeackert und ist "bis zum 16. Jahrhundert gekommen". Löblich - aber von einem Bildungsbürger hat man schon einmal mehr erwarten dürfen.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin

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