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Thomas Stangls zweiter Roman "Ihre Musik" hat sprachliches Kunsthandwerk zu bieten, aber nicht viel mehr, meint Stefan Neuhaus.

Die Handlung von "Ihre Musik", soweit rekonstruierbar, ist schnell erzählt: Mutter Emilia Degen und Tochter Dora leben allein in einer 5-Zimmer-Wohnung in der Wiener Innenstadt. Die Tochter hat den Vater nicht gekannt. Beruflich folgt sie dem Weg der Mutter, die an der Wiener Universität arbeitet, auf einer untergeordneten Stelle. Die Ängste der Tochter führen dazu, dass sie auf dem Weg zur Doktoratsprüfung anhält, sich in ein Café setzt und den ersten Termin sausen lässt (später promoviert sie offenbar noch, denn sie wird mit Frau Doktor angeredet). Dora lernt einen jungen Akademiker namens Jan kennen und lieben, doch verlässt sie ihn im ersten gemeinsamen Urlaub. Schließlich bekommt sie eine schwere Krankheit und muss im Rollstuhl sitzen.Emilia pflegt sie zunächst, dann tötet die Mutter die eigene Tochter aus Mitleid.

Großes Thema Einsamkeit

Sozialer Brennstoff also, mit dem der Autor Thomas Stangl umgeht. Das große Thema heißt Einsamkeit. Schon die Mutter war einsam, hat sich durchs Leben geschlagen; auch die Tochter vermag es nicht, aus sich herauszugehen und aus der gemeinsamen Wohnung auszubrechen, um ihr Leben in die Hand zu nehmen. Den wechselnden Nachbarn ist das egal, sie sind teilnahmslos oder unverbindlich neugierig. Die einzige Kontinuität ist die Wohnung, in der bereits die Mutter aufwuchs; doch mit Romanende wird sie geräumt. Kommt die Mutter in ein Gefängnis oder, schließlich ist auch sie schon alt und gebrechlich, in ein Pflegeheim? Man weiß es nicht.

Überhaupt gibt es viel, was man nicht weiß oder erst sehr spät erfährt. Auf den Seiten 42 und 43 tauchen zum ersten Mal die Namen der beiden Frauen auf, um die es geht. Die Erinnerung der beiden wechselt, verschmilzt, es stellt sich ständig die Frage: "Wer denkt?" Nicht etwa: "Wer spricht?", denn Dialoge kommen in dem Roman nicht vor. Es ist aber auch nicht die Tradition des Inneren Monologs seit Schnitzlers Leutnant Gustl, in die Stangl sich stellt. Offenbar gibt es einen namenlosen Ich-Erzähler, einen Mann (weil Jackett-Träger), der auf den Spuren der Frauen wandelt. Ein Alter ego des Autors? Man weiß es nicht.

Der Roman beginnt programmatisch mit "Sie erinnert sich", vermutlich soll die assoziative Struktur das Assoziative der Erinnerung abbilden. Ob das sinnvoll ist, wenn es einen außerhalb der Handlung stehenden Erzähler gibt und nur ganz selten in die Ich-Perspektive gewechselt wird? Man weiß es nicht.

Die Krankheit, an der Dora leidet, wird nie genannt, die beiden eingestreuten Begriffe "Interferone" und "Betainterferonen" lassen mit Googles Hilfe die Diagnose Multiple Sklerose stellen. Auch das Schockierende der Handlung, die Tötung der Tochter, wird nur angedeutet. Der Roman ist, vielleicht in Anlehnung ans klassische Drama, in fünf Kapitel und diese wiederum sind in unterschiedlich lange Abschnitte gegliedert; 18 Seiten vor Schluss findet sich die folgende, nur drei Zeilen lange Stelle: "Das Erhabene der Zerstörung ist im nächsten Moment nur noch banal, ekelhaft, wenn ich den Blick abwende, bleibt das Bild hinter den Lidern, ich zittere, anstatt mich zu bewegen." Das allein würde nicht viel aussagen, wenn nicht Polizei und Rettungswagen auftauchen würden, wenn nicht ein toter Körper in der Wohnung läge, wenn nicht Emilia Degen als Beschuldigte behandelt würde.

Abgesehen von der Rätselraterei ist zu fragen, ob eine solche Sprache dem Thema angemessen ist. Sicher, Stangl weiß zu formulieren. Er baut mit Lust Thomas-Mannsche Sätze, oft über eine halbe Seite, mit Parenthesen in Klammern, eine seiner besonderen Spezialitäten. Doch wie kann der furchtbar traurige Mord aus Mitleid an der eigenen Tochter das "Erhabene der Zerstörung" reflektieren, auch wenn es gleich wieder vorbei ist?

Lustvolles Rauchen

Armut kennen die beiden Frauen offenbar nicht, auch wenn sie kaum zu arbeiten scheinen. Der einzige, fast schon erfrischende Verstoß gegen die erzählerische Unverbindlichkeit ist, dass beide Frauen und der Erzähler lustvoll rauchen. Sicher wird die Anti-Raucher-Fraktion auch in der Fiktion bald ihre breiten Schneisen ziehen, in Film und Fernsehen ist dies ja schon lange geschehen. Aber so etwas zu loben heißt, nicht nur nach Zigaretten, sondern nach Strohhalmen zu greifen.

Ohne Musik

Der Titel "Ihre Musik" klingt, als handele es sich um einen verspäteten Pop-Roman, als würde, wie beispielsweise in Benjamin von Stuckrad-Barres "Soloalbum", Musik in Gestalt von Gruppen und Titeln eine zentrale Rolle für die Identität der Figuren spielen. Dabei ist nur wenige Male im Roman von Musik die Rede, und dann stets so unspezifisch wie hier: "Ihre Haut ist durchscheinend, sie bewegt sich ganz leicht, wie zu einer nur für sie hörbaren Musik." Stimmt, als Leser hört man nichts von dieser geheimnisvollen Musik, vielleicht wäre als Titel "Ohne Musik" noch besser gewesen ...

Die komplizierte Erzählstruktur, das indirekte Erzählen korrespondiert mit Anspielungen auf Hausgötter der Intellektuellen, etwa auf Walter Benjamin. Ob der sich über diese seltsam unbeteiligte Behandlung eines wichtigen sozialen Themas gefreut hätte?

Thomas Stangl hat 2004 für seinen Roman Der einzige Ort den Aspekte-Literaturpreis erhalten, also den wichtigsten Preis für ein deutschsprachiges Debüt. Auch hier wird ein Rätselspiel inszeniert und es dauert eine Weile, bis man begreift, um wen und was es geht. Doch ist der umfangreiche Text so stark reise- und geschichtsgesättigt, dass er im Genre der Historischen Romane zweifellos eine begrüßenswerte Ausnahmeerscheinung darstellt. Der im "einzigen Ort" verfolgte Weg nach Timbuktu erscheint jedenfalls plausibler als der Weg in eine 5-Zimmer-Wohnung in der Wiener Innenstadt.

Ihre Musik

Roman von Thomas Stangl

Literaturverlag Droschl, Graz 2006

190 Seiten, geb., e 19,-

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