Mordbilanz

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Arno Lustiger schrieb ein Rotbuch über "Stalin und die Juden"

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Arno Lustiger schrieb ein Rotbuch über "Stalin und die Juden"

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Warum ließ Stalin die Elite der russischen Revolutionäre und der Roten Armee, darunter 169 jüdische Generäle, sowie die führenden jüdischen Intellektuellen ermorden? Es gibt keine endgültige Antwort auf diese Frage, und auch Arno Lustiger konnte sie in seiner meisterhaften Studie über Stalin und die Juden nicht geben.

Lustiger stammt aus Polen, überlebte Auschwitz und Buchenwald und lebt seit 1945 in Frankfurt am Main. Sein Cousin ist der Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger, der mit 19 Jahren zum Katholizismus übertrat. Er schrieb das Buch "Schalom Libertad!" über die Juden im Spanischen Bürgerkrieg und "Zum Kampf auf Leben und Tod" über den Widerstand der Juden gegen die Nazis. Sein jüngstes Werk enthält zahlreiche neue Informationen und Dokumente. In den ersten Kapiteln schildert er das trotz der Unterdrückung blühende jüdische Kulturleben vor 1917 und die janusköpfige Befreiung der Oktoberrevolution, die mit 1.236 Pogromen in der Ukraine, bei denen 60.000 Juden ermordet wurden, begann. Die religiösen Einrichtungen der Juden wurden nach der Revolution liquidiert, und auf ihren Trümmern enstand, wie Lustiger ausführlich beschreibt, eine regimekonforme jiddische Kultur und Literatur. Die sowjetischen Behörden schreckten in ihrem antireligiösen Eifer auch nicht vor einem Schauprozeß gegen die jüdische Religion und die Rabbiner zurück.

Ein eigenes Kapitel widmet Lustiger dem Scheitern der jüdischen autonomen Region in Birobidschan in Sibirien: "Jahrzehntelang haben zahlreiche Journalisten, Schriftsteller und Dichter, auch nichtjüdische, die Fiktion vom jüdischen Birobidschan enthusiastisch beschrieben. Angesichts der elenden und zeitweisen auch furchtbaren Wirklichkeit können sie es nur wider besseres Wissen getan haben." Für den deutschsprachigen Leser besonders interessant ist auch Lustigers Darstellung der jüdischen Arbeiterorganisation Bund, deren Jugendorganisation er selbst angehörte und über die es kaum neuere deutsche Literatur gibt.

Das 1942 gegründete offizielle Jüdische Antifaschistische Komitee sollte durch Geldsammlungen und propagandistische Tätigkeit den Verteidigungskrieg der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland unterstützen. Die 119 Mitglieder repräsentierten die intellektuellen Elite des sowjetischen Judentums, es gab Bücher und eine eigene Zeitschrift heraus, Präsident war der berühmte Schauspieler Solomon Micho'els, der zusammen mit dem Dichter Izik Fefer 1943 die USA besuchte, wo sie Albert Einstein trafen und bei Massenkundgebungen in 46 Städten sprachen. Eines der wichtigsten Projekte war ein Schwarzbuch, zu dem es verschiedene konkurriende Konzepte über die Frage gab, ob es ausschließlich über den Widerstand und die Verfolgung der sowjetischen Juden durch Hitler oder die Vernichtung der Juden in Europa berichten sollte. Lustiger beschreibt ausführlich die Geschichte der verschiedenen Fassungen sowie die editorische Arbeit von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman. Die zum Teil bereits gedruckte russische Ausgabe wurde von Stalin verboten. Publiziert wurden amerikanische und rumänische Ausgaben. Die erste unvollständige russische Version erschien 1980 in Jerusalem. Lustiger veröffentlichte 1994 in Deutschland erstmals in einer westlichen Sprache das unzensierte Schwarzbuch, dessen Manuskript er von der Tochter Ilja Ehrenburgs erhalten hatte.

Micho'els, Direktor des Moskauer jiddischen Theaters und die populärste, charismatischeste jüdische Persönlichkeit der Sowjetunion, wurde 1948 durch einen vorgetäuschten Verkehrsunfall ermordet. Er erhielt wie zum Hohn ein Staatsbegräbnis, während seine Töchter gewarnt wurden, niemals Fragen nach den Umständen seines Todes zu stellen.

Die letzten Lebensjahre Stalins waren die schwarzen Jahre des sowjetischen Judentums. Das Komitee wurde aufgelöst, sein Archiv beschlagnahmt, 1952 ließ Stalin einen Geheimprozeß gegen führende Mitglieder führen. 13 Angeklagte, die unter der Folter unter anderem Spionage für das feindliche Ausland gestanden hatten, darunter die prominenten jiddischen Schriftsteller David Bergelson, David Hofstein, Leib Kwitko und Perez Markisch, wurden hingerichtet - ebenso wie Izik Fefer, der seine Kollegen verraten und beschuldigt hatte. Viele Einzelheiten der Stalinschen Judenverfolgung sind bereits in "Orden für einen Mord" von Alexander Borschtschagowski nachzulesen (Furche 18/1998). Wie er die jiddischen Dichter im Krieg für die Interessen der Sowjetunion einsetzte und auf eine große Propagandareise ins verbündete Amerika schickte und ihnen nach dem Krieg ausgerechnet aus den Kontakten mit amerikanischen Kollegen den tödlichen Strick drehte, das war typisch für Stalins Skrupellosigkeit und Heimtücke.

Stalin war lebenslang Antisemit. Nach dem Krieg, als er die Juden nicht mehr brauchte, wurden die kulturellen jüdischen Institutionen geschlossen, jiddische Publikationen verboten und die Bücher aus den Bibliotheken entfernt. Lustiger bemerkt dazu freilich auch, daß von seiten der amerikanischen Schriftsteller und der PENClubs damals kein Protest bekannt geworden sei.

Der Tod Stalins 1953 bewahrte das sowjetische Judentum vor der weiteren Verfolgung, obwohl Lustiger viele stalinistische Zukunftsszenarien in der gängigen Literatur als Spekulationen von sich weist. Im letzten Abschnitt stellt er die Biographien der von ihm im ersten Teil des Buches erwähnten russischen Juden in der Sowjetunion und im Exil vor. Denn in allen seinen Büchern war es ihm besonders wichtig, "die Menschen als Objekte und Subjekte der historischen Ereignisse darzustellen" und dem Vergessen zu entreißen. Die umfangreiche kommentierte Bibliographie ist ein weiterer wichtiger Pluspunkt seines Buches.

Die Studie, die so nüchtern und genau die schlimmsten Fakten beschreibt, verfällt niemals in einen einseitigen anklagenden oder polemischen Ton. Lustiger verwahrt sich gegen Versuche, "die Geschichte der Sowjetunion durch sensationelle Enthüllungen über die Verbrechen des Kommunismus umzuschreiben" und damit die Einzigartigkeit der Shoah zu verdunkeln und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren. Der Autor beendet denn auch das Buch mit einem Gedenken an die Opfer der sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg: "Ohne ihr Opfer wäre die Welt verloren; sie haben uns vor der Herrschaft des mörderischen Nazismus gerettet. Auch den Helden der Roten Armee verdanken wir neben den westlichen Alliierten unser Überleben." Daß das Überleben der Juden in dem ihm von Hitler aufgezwungenen Krieg Stalin interessierte, darf man freilich bezweifeln.

Rotbuch: Stalin und die Juden Von Arno Lustiger, Aufbau Verlag, Berlin 1998, 429 Seiten, geb., öS 364 ,

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