Matrjoschka - © Foto: Shutterstock

Moskau: Internetzugang für historisches Archiv

19451960198020002020

Den ersten Schritt zur Öffnung der geheimnisumwitterten zeitgeschichtlichen Archive Russlands machte Gorbatschow: der Zugang für Forscher. Nun folgte der zweite Schritt: der Zugang für jeden - übers Internet.

19451960198020002020

Den ersten Schritt zur Öffnung der geheimnisumwitterten zeitgeschichtlichen Archive Russlands machte Gorbatschow: der Zugang für Forscher. Nun folgte der zweite Schritt: der Zugang für jeden - übers Internet.

Werbung
Werbung
Werbung

Moskau, Twerskaja Straße, unweit des Kremls. Das historische Gebäude des früheren Englischen Klubs. Wir kennen es von den Erzählungen Leo Tolstojs und aus "Krieg und Frieden". Hierher hatte der russische Geschichtsverband geladen. Der Ort war gut gewählt. Heute beherbergt das Haus das russische Museum für Zeitgeschichte. Es wird gerade inhaltlich und baulich renoviert. Zu dieser Renovierung passt auch der Anlass für den "Runden Tisch" mit Experten aus Russland, Frankreich, Deutschland und eben Österreich. Es geht um die russischen Archive, um die Archivpolitik und um einen neuen, wesentlichen Akzent.

Die zeitgeschichtlichen Archive in Russland umgab seit Jahrzehnten eine Aura des Geheimnisvollen, der Unzugänglichkeit. Den ersten Schritt zu ihrer Öffnung machte Gorbatschow am Ende der Perestrojka: der Zugang für Forscher. Nun folgte der zweite, entscheidende Schritt: der Zugang für jeden - übers Internet.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

"Elchtest"

Die Öffnung der umfangreichen Geheimakten des Staatlichen Verteidigungskomitees (GKO), unter Stalin das höchste Entscheidungsgremium im Zweiten Weltkrieg, und ihre Bereitstellung über ein Internet-Portal vor kurzem in Moskau waren der "Elchtest" für die Bereitschaft, auch höchst sensibles Material online zu stellen. Unter Sergej Naryschkin, dem russischen Duma-Präsidenten und Statthalter Putins im russischen Historikerverband, und durch eine mutige und zeitgemäße Öffnungspolitik der Föderalen Archivagentur (Rosarchiv) unter Andrej Artizow und Wladimir Tarasow macht man nun über das Internet allgemein zugänglich, was seit Jahren durch Kommissionen geöffnet und vorbereitet wurde.

Bis jetzt unter Verschluss gehaltene Findbücher (opisi), die die Bestände in den Archiven auflisten, geben Auskunft darüber, welche Akten überhaupt vorhanden waren, noch vorhanden sind oder in andere Sammlungen abgetreten wurden. Sie gehören, neben den Akten selbst, zum Wertvollsten jedes Archivs.

Mit dem Internet-Zugang wurde wiederum eine Puppe in der Matrjoschka geöffnet. Die nächsten Puppen beinhalten die Behördenarchive. Wie viele Puppen es noch gibt, bleibt weiterhin Spekulation.

Es ging und geht weiterhin um die Öffnung der russischen Archive. Die Aktenordner (dela) riesiger Bestände des Staates und der Kommunistischen Partei bis zur Mitte der 1960er Jahre mit Millionen an Akten, Fotos, Plänen, Protokollen, persönlichen Aufzeichnungen betreffen vor allem die sowjetische und russische Geschichte. Sie behandeln aber auch entscheidende Fragen der europäischen und weltpolitischen Entwicklung: Die Interna sowjetischer Entscheidungen in der Kuba-Krise, zum Bau der Berliner Mauer, zum Vietnam-Krieg, das Verhältnis zu China und zu den USA, die NA-TO, die Bewegung der Blockfreien mit Ägypten und Jugoslawien oder auch die neutralen Staaten wie Schweden oder Österreich.

239.902 Seiten

Einen zunehmend besseren Überblick über die geöffneten Bestände gab es seit 1998, als nämlich begonnen wurde, Stück für Stück die Findbücher der einzelnen acht Archive (plus die Archivabteilung für Wissenschaft und Technik) in kleinen Auflagen zu veröffentlichen.

Vor eineinhalb Jahren, im Dezember 2013, wurde schließlich beschlossen, eine Datenbasis der Files, Findbücher und Dossiers aller föderalen Archive sowie der Regionalarchive Russlands zu erstellen und in einem Internet-Portal "Die Archive Russlands" der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Materialien werden seither eingescannt und elektronisch aufbereitet. Vor allem im Staatsarchiv (GARF) unter Sergej Mironenko, im Parteiarchiv unter Andrej Sorokin, im Militärarchiv unter Wladimir Kuselenkow und Wladimir Korotajew oder im Archiv des ehemaligen ZK der KPdSU unter Natalja Tomilina und Michail Prosumenschtschikow, die insbesondere für die westlichen Forscher von großem Interesse sind.

Das kürzlich in Moskau vorgestellte elektronische Archiv des Staatlichen Verteidigungskomitees von 1941 bis 1945 ist ein entscheidender Schritt zur Öffnung der Archive des Landes. Der im Internet zugängliche Bestand umfasst in 1025 Aktenordnern alle 9971 Anordnungen und Stalin-Befehle des GKO sowie die Sitzungsprotokolle des obersten Leitungsgremiums im Zweiten Weltkrieg. 44 Dokumente des GKO wurden nicht frei gegeben. Insgesamt handelt es sich um 239.902 Seiten, die kostenlos in elektronischer Form zur Verfügung gestellt werden.

Das GKO selbst tagte an verschiedenen Orten in Moskau bzw. der unmittelbaren Umgebung, zumeist aber im Kreml. Nach Samara/Kujbyschew, wo für Stalin und das GKO während des Krieges mitten in der Millionen-Stadt an der Wolga ein eigener, 40 Meter tiefer Bunker ausgehoben und eingerichtet wurde, kam das GKO nie.

Vor 40 Jahren in Moskau ...

Mit dem Internet-Zugang des GKO-Bestandes wurde wiederum eine Puppe in der russischen Matrjoschka geöffnet. Die nächsten Puppen beinhalten die sogenannten Behördenarchive, also u. a. jene des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB, früher KGB), des Innenministeriums (MWD), des Präsidentenarchivs, des Außenministeriums (MID), des Generalstabs der Russischen Streitkräfte oder des Zentralarchivs des Verteidigungsministeriums in Podolsk (CAMO). Welche Geheimnisse diese in sich bergen und wie viele Puppen es in der Puppe noch gibt, bleibt weiterhin Spekulation.

Dennoch: Vor 40 Jahren, mitten in den Breschnjew-Jahren, als ich das erste Mal in Moskau mit meinem Auto auf dem "Alten Platz" parken wollte, war dies unmöglich. Damals wusste ich den Grund nicht: Es war das Areal des ZK der KPdSU. Heute arbeiten die Historiker in eben diesen Gebäuden an den Akten der Breschnjew-Zeit.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz sowie Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz-Wien-Raabs

Der Autor ist österreichischer Historiker und Gründer und Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung.

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung