Musik als Ausdruck umfassender Humanität

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Krank war Kurt Masur schon seit langem. Seine 2011 öffentlich gemachte Parkinson-Erkrankung zwang ihn, die letzten Jahre im Rollstuhl zu dirigieren. Aber ohne Dirigieren konnte sich der 1927 als Sohn eines Elektrofachhändlers im schlesischen Brieg geborene Langzeit-Gewandhauskapellmeister ein Leben nicht vorstellen. Auch wenn es den Musikern immer schwieriger wurde, seine Gesten zu deuten. Dabei gab es schon 1972 eine Zäsur in Masurs Dirigentenleben: seit damals leitete er die Orchester ohne Taktstock. Schuld daran war ein Autounfall, bei dem seine zweite Frau tödlich verunglückte. Die Mitschuld daran quälte ihn sein ganzes Leben. Anfangs so sehr, dass er meinte, es sei nun auch seine Dirigentenkarriere beendet. Erst auf Grund des Zuspruchs von Mitgliedern des Gewandhausorchesters Leipzig, dessen Chefdirigent er zwischen 1970 und 1997 war, entschloss er sich, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. Masur begann seine Laufbahn als Kapellmeister an den Theatern von Halle an der Saal, Erfurt, Leipzig, Schwerin sowie an der Komischen Oper Berlin, ehe er eine Reihe von Chefpositionen übernahm. Zuerst bei den Dresdner Philharmonikern, dann eben in Leipzig, schließlich bei den New Yorker Philharmonikern, später in London beim Philharmonic Orchestra und beim Orchestre de Paris. Dass der einstige Ostdeutsche, dessen bevorzugtes Repertoire die Romantik war, plötzlich so im Westen geschätzt wurde, lag an seinem politischen Engagement. Zählte er doch zu jenen Prominenten, die am 9. Oktober 1989 den Aufruf "Keine Gewalt" der Leipziger Montagsdemonstrationen mitverfasste, die wesentlich zu deren friedlichen Verlauf beitrug.

Beinahe hätte sich Masur damit für das Amt des Bundespräsidenten empfohlen. Aber da war er längst in New York, um den dortigen Philharmonikern die großen klassischen und romantischen Werke aus dem Blickwinkel mitteleuropäischer Tradition zu vermitteln. Masur war, wie sich auch in seinen zahlreichen Platteneinspielungen, darunter mehrere Gesamteinspielungen, nachhören lässt, ein Kapellmeister der alten Schule, unspektakulär in seinem Auftreten, klar in seinen Vorstellungen, stets beseelt von der Kraft der Musik. Mit ihr im Hintergrund konnte er selbst in DDR-Zeiten mehrere West-Gastspiele seiner Orchester erzwingen, sogar Honecker den Bau des neuen Gewandhauses abtrotzen. Musik als Ausdruck umfassender Humanität: Das war Masurs Botschaft. Am 19. Dezember ist er in Greenwich, Connecticut, 88-jährig verstorben.

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