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DAS FESTE ENSEMBLE

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Bei der Lektüre kritischer Besprechungen von Opern-abenden fallen einem gelegentlich die Redewendungen „ ... als wir noch ein festes Ensemble hatten...“ oder ähnliche Äußerungen auf. Das ereignet sich nicht nur in Wien nach einer beliebigen italienischen Opernwiedergabe, auch in Paris nach einer verpatzten „Cosi-fan-tutte“-Einstudie-rung und in Brüssel, wo, seit man das altberühmte theätre Royal de la Monnaie in Nationaloper umgetauft'hat,der Spielplan vielfach von ausländischen Truppen bestritten wird. — Der bedauernde Ausruf erfolgt überall dort, wo man einst ein festgefügtes Ensemble nicht mehr weiter gepflegt, also fallen gelassen hat, um einem Stagionebetrieb oder analogem Platz zu machen.

„Sfagione“ bedeutet Jahreszeit. Als erweiterter Theaterbegriff angewendet, versteht man darunter das Gastspiel einer Truppe, die für eine bestimmte Jahreszeit engagiert ist. Also die Opernstagione meist vom 26. Dezember bis Ende März (aus besonderem Anlaß gibt es auch die Som-merstagione), dann folgt die Ballettstagione und dann die Konzerte mit dem ansässigen Orchester. Diese Regelung ist in südlichen Ländern seit Jahrhunderten gebräuchlich und liegt in der Natur des Südländers. Werden Opern gespielt, so will er womöglich jeden Tag eine hören, bis er nach einigen Wochen plötzlich genug davon hat, dann macht er es ebenso mit dem Ballett, und ein wesentlich spärlicherer Teil der Bevölkerung das gleiche mit den Konzerten.

Natürlich hat sich die diese Stagionen fast auschließlich bestreitende italienische Künstlerschaft fast ausschließlich darauf eingestellt. Der junge italienische Sänger muß sehen, daß er sich in irgendeinem kleinen Theater den Nachweis ersingt, gewisse Rollen perfekt zu beherrschen. Nur mit diesem Nachweis hat er die Chance, vom Impresario einer bedeutenderen Bühne, dort heißt er heute meist „Sovrintendente“, für eine nächste Stagione, oder auch nur für eine einzige Oper in dieser Stagione, engagiert zu werden. Die Theater engagieren nur für bestimmte Rollen, so haben die Leiter am wenigsten Mühe und Probleme.

So ist aber auch jeder Sänger ängstlich bemüht, sich das Konzept nicht stören zu lassen, nach dem er seine Rolle studiert hat, und nur einem ganz erstklassigen Dirigenten kann es gelingen, aus den fünf oder sechs Hauptsolisten, die da zusammentreffen, ein „Ensemble“ zu formen. Meist wird man nur mehr oder minder divergierende Einzelleistungen hören oder sehen. Da diese Stagionen fast überall zur gleichen Zeit erfolgen, außer bei den Antipoden, so ist der italienische Künstler relativ wenig beschäftigt. Erst kürzlich hat mir einer der bedeutenderen freimütig erzählt, für fünf Monate hat er Kontrakte, sieben sind noch unbesetzt. Und wenn er singt, singt er ein- bis zweimal in der Woche, und immer „seine“ Rollen. — Wer rastet, rostet bald! Und ein Sänger lernt nicht, wenn er keine Aufgaben hat. Übrigens leicht begreiflich, denn der Mangel einer Aufgabe deprimiert ihn sofort — und Künstler müssen ja sensible Menschen sein.

Wie sieht nun die Sache wirtschaftlich aus? Der Sänger ist jeweils mehrere Monate im Jahr nicht beschäftigt. Man kann nicht verlangen, daß er sich in dieser Zeit sein Brot als Wein- oder Textilagent verdient. Man muß ihm also seine künstlerische Tätigkeit so bezahlen, daß er auch während der langen Zeit der Untätigkeit anständig leben kann. Wenn man dazunimmt, daß er aus Prestigegründen während der Stagionen nur in Hotels erster Kategorie lebt, Reisen fast ausschließlich per Flug erfolgen, er womöglich noch einen „Manager“ bezahlen muß, so sind die enormen Honorare erklärt, die bei diesem System auch Sänger bekommen, die nicht immer enorme Leistungen bieten. Wenn in den südlichen Ländern private reiche Finanziers, die Bürger, der Staat solche Honorare bezahlen, so eben deshalb, weil diese, wie geschildert, „naturbedingt“ sind, und — weil die Opernsaison ja nur drei bis fünf Monate dauert.

Selbständiges Singen und Agieren, ohne intensive Verbindung zu den anderen Künstlern, werden nördlich des 46. Breitengrades, wenn sie nicht durch ganz exzeptionelle Qualitäten gestützt sind, nicht als das Um und Auf erstklassiger Opernkunst angesehen. Und diese sind selten exzeptionell, da das ewige „Gleiche-Rollen-Singen“ den Sänger wohl zuerst auf eine gewisse Höhe bringt, ihn dann aber abstumpft und gleichgültig macht. Wenn außerdem die Sänger in einer Sprache singen, die der Hörer nicht beherrscht, so ist ein weiterer Grund gegeben, warum ver-schiedenenorts immer wieder der Ruf nach einem „festen“, hauseigenen, landessprachigen Ensemble erschallt. Man will miterleben können, was man hört, dazu muß man es verstehen und bedarf fortgesetzter seelischer Bindung durch die Gesamtheit der Darbietung.

Zu diesen Unzufriedenen aus künstlerischen Erwägungen kommen noch jene, die bemerken, daß durch die Art, wie man den italienischen Stagionebetrieb einschaltet, die heimische Opernkunst an die Wand gedrückt und zur Zweitrangigkeit gestempelt wird. Die italienischen Künstler sind vom 1. Dezember bis April in Italien gebunden. Sie stehen dem Ausland zum Großteil nur vorher oder nachher zur Verfügung. Bei einem Theater im deutschen Sprachraum ist die Zeit des stärksten Publikumsinteresses 1. September bis 15. November und 1. April bis Anfang Juni. In der Zwischenzeit wird ein Teil des Publikums durch Geschäftssaison (Weihnachtsvorzeit), Ballsaison und Wintersportsaison abgelenkt, worunter selbstverständlich der Opernbesuch leidet. Es werden also den Stagionen die einnahmesichersten Teile der Spielzeit gewährt und der landessprachigen Opernkunst die einnahmeschwächeren. Worauf man dann mit Posaunentönen verkündet: „Ja, seht, was die die Italiener einbringen!“

Zu betonen ist, daß in diesen Feststellungen nicht „echte Stars“ eingeschlossen sind. Das sind Künstler, die niemals brüllen oder fuchteln, die ein erlesenes Stimmaterial mit außergewöhnlicher Musikalität und Intelligenz behandeln, die jede Rolle vom ersten bis zum letzten Takt erleben und durch die Art ihres Singens und Spielens das Publikum zum Miterleben bringen. Sie sind fähig, einen unbedeutenden Dirigenten für einen Abend bedeutend zu machen, ein Ensemble mittelmäßiger Sänger zu einer grandiosen Leistung anzufeuern. Seltene Menschen, seltene Künstler! — Sie sind nicht zu beneiden. Sie bekommen keine Pension, wenn sie alt sind, sind ehrgeizzerfressen, solange sie jung sind, sonst würden sie nie das Format erreichen, und stets von der Sorge gequält, daß ihre Fähigkeiten plötzlich erlöschen könnten. — Für den Schlachtruf „Hie Stagione — hie festes Ensemble“ sind sie ohne Belang, es gibt ihrer zu wenige.

“VyTenn nun ein weltstädtisches Theater eines Tages vom W Stagionebetrieb zum Betrieb mit festem Ensemble umschwenken möchte, kann es das?

Nur allmählich und nur mit Hilfe des Nachwuchses, den andere Theater haben. Die arrivierten Sänger, deren Qualität bereits eindeutig feststeht, lassen sie sich nämlich nicht leicht wegnehmen, die haben sie langjährig gebunden.

Zuerst müßte ein Operndirigent bestellt werden,

• den Talent und langjährige Erfahrung in die Lage setzen, kurzfristig festzustellen, wer entwicklungsfähig ist und welche Eigenheiten bei einem Sänger zu beachten sind,

• der ausgesprochenes Gesangsempfinden besitzt, dazu Kenntnis der Prinzipien des Belcanto-Gesangstiles und die Fähigkeit, jungen Sängern Gesanghilfen zu geben,

• dem Sinn für den musikdramatischen Aufbau einer Arie, einer Szene, einer Rolle eignet,

• der solcherart die Gabe nachweisen kann, Sänger zu „entwickeln“ und aus ihnen ein Ensemble zu bilden.

Dieser Mann wird ausgesandt, alle Operntheater des gleichen Sprachraumes nach jungen Talenten abzusuchen. Sänger zu verpflichten, die eben erst die Schule verlassen haben, wird sich selten empfehlen, da ihre Qualitäten doch meist noch zu sehr im Keime sind und sie, ohne jede Praxis, für ein großes Opernhaus eine zu große Belastung darstellen. — Etwa zwanzig der Begabtesten werden ausgewählt und auf zwei Jahre verpflichtet. Damit sie sich ihrer Aufgabe in jeder Hinsicht unbeschwert widmen können, wird ihnen ein Einkommen gewährt (fixe Gage plus Auftrittshonorare), das etwa dem Doppelten ihrer letzten Provinzbezüge entspricht.

Dem Leiter dieser „Nachwuchsabteilung“ — es ist der Dirigent, der die Sänger ausgewählt hat — wird aufgetragen, nach einer angemessenen Einarbeitungszeit mit seinen jungen Künstlern jeden Monat eine Oper herauszubringen, und jede Woche erscheint dann eine Aufführung dieser Abteilung im Spielplan. Da ein Werk durchschnittlich acht bis zehn Rollenträger beansprucht, kann eine Einteilung getroffen werden, daß praktisch jeder Sänger zwei Monate Zeit zur Ausarbeitung seiner Rolle hat. Sämtliche Aufführungen der Nachwuchsabteilung erfolgen unter der Stabführung des Abteilungsleiters. — Nach zwei Jahren werden jene Sänger, die sich bewährt haben, gegen die zu dieser Zeit für „erste“ Sänger üblichen Normalgagen fest in den Verband des Institutes übernommen; die anderen werden durch neue Aspiranten ersetzt

J—<ine solche Regelung böte manchen Vorteil:

• Schon nach den ersten Jahren besitzt das Institut für acht bis neun Opern eine vollkommene, stets vorhandene Besetzung. Lassen gelegentlich illustre Gäste das Haus im Stich, so ist für diese Opern schon der Ersatz da.

• In diesem Nachwuchsensemble werden sich etliche Künstler zu „Persönlichkeiten“ entwickeln, daß heißt, ein neues Ensemble von Spitzenkräften wird in wenigen Jahren zur Verfügung stehen, und zwar eines, das nicht nur durch Gagen, sondern auch durch Heimatgefühl sich an das Theater gebunden zeigen wird.

Die gesamten Kosten dieser Nachwuchsabteilung würden sich ungefähr so hoch belaufen, wie für drei bis fünf Stagionekräfte. Da die Entwicklung eines Sängers in der Hauptsache von der Seite des Gesanges und der musikalischen Interpretation her erfolgen muß, ist das Engagement eines eigenen Regisseurs für die Abteilung nicht unbedingt erforderlich, sondern es kann jeweils einer der ohnehin engagierten Künstler die szenische Gestaltung übernehmen. Dekorationen und Kostüme sind vorhanden, da vorerst nur Repertoireopern studiert werden sollen. Die Nachwuchsabteilung für „Experimente“ (unbekannte Werke und so weiter) zu verwenden, wäre gegen den. Sinn ihrer Aufstellung.

Vielleicht erscheinen manchem diese Erörterungen utopisch. Sie sind es aber nicht. Es kommt wesentlich auf den „leitenden Mann“ dieser Abteilung an. Auf seinen Schultern liegt nicht nur die Verantwortung, sondern auch die Schwere der Arbeit. Zu Mozarts Zeit, und auch noch später, war der Opernkapellmeister oft der Gesanglehrer seiner Sänger. Wenn das heute nicht nötig ist, so soll er doch viel vom Singen verstehen und von einer wahren Liebe zum Gesang besessen sein. Es ist kein Geheimnis, daß , heute überall in der Welt viele Operndirigenten zum Sänger keine andere Beziehung mehr haben als die des Einsatzgebens. Sich selbst ans Klavier zu setzen, um mit dem Künstler zu arbeiten, betrachten sie als ihrer unwürdig. Da hatte doch Gluck, der große Opernreformator, wahrlich ein bescheidenes Gemüt, er schreibt am 29. August 1776:

„... wan ich diese Ehre verdient habe, so ist Es nicht so viel wegen der gutten Music: / weilen vor, und nach mir von vielen gutte Musiquen seyndt gemacht worden und werden annoch verfertiget werden: I sondern wegen der ihnen gezeigten manier Ihre opern zu verfertigen, und weilen ich ihnen Einer Actrice und Einen Act eur entwicklet habe von welchen sie nichts dachten, Eine ich möchte sagen, verdiente Belohnung.“

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