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Das moderne Opernensemble

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In dem Artikel „Der Spielplan eines Ensembletheaters („Die österreichische Furche“, Nr. 17) wird die Wiener Staatsoper als die vielleicht letzte große Bühne dieser Struktur bezeichnet. Aber gleich darauf findet man die Feststellung, daß sich das Bild de6 modernen Ensembletheaters von dem Gefüge eines der großen europäischen Opernhäuser etwa um die Jahrhundertwende in wesentlichen Zügen unterscheidet. Damals 6tand das Personal der Direktion selbstverständlich während der ganzen Spielzeit zur Verfügung, kleine Abstecher in die Provinz oder gar ins Ausland wurden zwar geduldet, aber nicht gerne gesehen und möglichst unterbunden. Den Nachwuchs bezog man von den zahlreichen kleinen Bühnen, die verläßliche Erziehungsarbeit leisteten. Es war ein ruhiger, geregelter Betrieb, dessen Vorteile neben allen Ausübenden auch den künstlerischen Leistungen zugute kamen, da eine Konzentration auf die Arbeit ohne allzu viele Ablenkungen möglich war.

Da es heute keiner Direktion gelingt, die Spitzensänger länger als einige Monate pro Spielzeit festzuhalten, hat auch das Ensembletheater derzeit mehrere Garnituren „erster Kräfte“, die einander ablösen. Eine genaue Kenntnis der „Fahrpläne der vielbegehrten Künstler gehört daher nunmehr zu den wichtigsten Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung eines Opembetriebes, da ohne dieses Wissen ein Disponieren auf lange Sicht unmöglich wäre. Da durch diesen steten Wechsel nicht nur moderne Werke, sondern selbst zugkräftige Aufführungen des Standardrepertoires zeitweilig vom Spielplan abgesetzt werden müssen, verwischen 6ich die Konturen zwischen „Stagionefheater“ und „Ensembleibühne“, ohne daß diese Tatsache für das Publikum so wesentlich wäre, wie vielfach behauptet wird.

Viel wichtiger sind die Auswirkungen dieses Zustandes der Unruhe auf das Niveau der Darbietungen und die Leistungen der Künstler. Es i6t nicht unbedingt ein Nachteil, daß an Stelle eines allmächtigen Chefdirigenten, der nur möglichst unbedeutende Repertoirekapellmeister neben sich 6ehen will, einige markante Persönlichkeiten einander am Pult ablösen, wenngleich nicht übersehen werden darf, daß ein ständiger Dirigent von Format als „ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht“ nunmehr eine viel wesentlichere Funktion zu erfüllen hätte als im Rahmen der einstigen Struktur. Weniger günstig ist das moderne System hingegen für die Sänger. Wenn es auch angenehm ist, daß durch die Ablösung der Spitzenkräfte das Publikum heute einer größeren Anzahl von interessanten Künstlern als je zuvor begegnet, so werden doch gediegene Ensembleleistungen immer mehr in Frage gestellt. Es ist unmöglich, mit jeder Garnitur jedes Werk neu einzustudieren. Dazu kommen die zahlreichen „Unfälle in den Fahrplänen, als deren Folge Künstler nicht rechtzeitig eintreffen, daher Proben unterbleiben, Aufführungen verschoben oder unzureichende Ersatzkräfte herangezogen werden müssen.

Verführt das „Stagionetheater (im Verein mit den allzu zahlreichen „Festspielen“) zur Spezialisierung auf bestimmte Partien, die überall „marktgängig“ sind, so kann auch das moderne Repertoiretheater kaum die nötigen Voraussetzungen zur Heranbildung von künstlerischen Spitzenleistungen schaffen. Besonders schädlich sind die Folgen für den Nachwuchs. Da auch die kleinen Theater — soweit sie überhaupt noch ein vertretbares Niveau aufweisen — in den ständigen Austausch von Künstlern einbezogen werden, gibt Routine in vielen Fällen bei Engagements den Ausschlag. Niemand nimmt sich, trotz sicher erhöhter Arbeitsleistung an jeder Bühne, genügend Zeit, um begabte junge Menschen durchzubilden und deren Repertoire systematisch „aufzubauen . Daher gilt heute vor Hem der „berühmte Name . Diese Erscheinung aber führt zu einer immer deutlicher hervortretenden Überalterung der Spitzenensembles, damit aber auch zu einer Senkung des Leistungsdurchschnitts.

Zu den Folgeerscheinungen gehört aber auch der heute bereits sehr fühlbare Mangel an großen Stimmen. Die Ursachen nur in einem eigenartigen Spiel der Natur zu 6ehen und zu behaupten, die „großen Stimmen stürben au6 , hieße eine bequeme Ausrede für oft begangene Fehler gebrauchen. Man sollte nicht übersehen, daß gerade in Mitteleuropa, das diesen Betrachtungen am nächsten steht, kaum ein großes Opernhaus unbeschädigt blieb und 6ich somit der Schwerpunkt des Opernbetriebe6 in kleine Häuser verlagerte, die auch mit wenig voluminösen Stimmen leicht zu füllen sind. Dazu kommt, daß auch der Rundfunk biegsame Stimmen bevorzugt. Man hat es also nicht nötig, jahrelange mühevolle Arbeit daran zu wenden, das Stimmvolumen systematisch zu entwickeln. Kleine Stimmen sind überdies leichter zu führen, ihre Träger können also geschmeidiger den verschiedenen Wünschen der Dirigenten und Direktoren entsprechen. Von dem Grundsatz, vor allem auf die Tragkraft und Entwicklungsfähigkeit eines Organs auch unter Hintansetzung einer ja noch zu erarbeitenden Schmiegsamkeit zu 6ehen — Schönheit des Timbres natürlich vorausgesetzt —, wird auch bei uns kaum mehr au6gegangen, man hätte sonst wohl nicht 6o konsequent die großen Stimmen ziehen lassen und die kleinen behalten. Das Gesagte gilt nicht nur für die .Hochdramatischen , die eine besonders lange und verständnisvolle Erziehungsarbeit brauchen, es besteht auch für die „leichteste“ Stimmgattung, den Koloratursopran, zu Recht. Der verfehlte „Kult der kleinen Stimmen , der bei uns mit besonderer Beharrlichen betrieben wird, kann eines Tages zu einem bösen Erwachen führen, wenn in Wien da6 neue Haus am Ring zur Verfügung steht oder — allgemein gesehen — die völlig unzureichende Vorsorge zur Heranbildung großer Stimmen die Wiedergabe zahlreicher Opern unmöglich macht. Niemand darf sich heute mehr darauf verlassen, daß andere schon solche Stimmen entdecken und entwickeln werden und man diese dann an das eigene Institut verpflichten kann. Die Ereignisse der letzten Jahre haben deutlich gezeigt, daß nur dann die Abwendung der bereits deutlich erkennbaren Gefahr zu erwarten ist, wenn man in jedem Fall einer großen Stimme den Vorzug vor einer geschmeidigen gibt und die Heranbildung einer möglichst großen Anzahl von entwicklungsfähigen Stimmen als vordringliche Aufgabe begreift.

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