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Die Repertoirevorstellung

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DIE REPERTOIRE VORSTELLUNG ist „der Alltag” auch des Operntheaters. Wie kein Mensch glücklich zu preisen ist, der die rund 60 Feiertage im Jahresablauf festlich zu gestalten weiß, aber an 300 Werktagen mürrisch und verdrossen „seine Pflicht erfüllt”, so ist kein Theater zu rühmen, das einer Handvoll Festpremieren und Galavorstellungen einen mehr oder weniger stark abfallenden „Alltag”, also uneinheitliche und niveauarme Repertoirevorstellungen, an die Seite stellt. Im Zeitalter breit gestreuter Abonnements kommt der Repertoirepflege höchste Bedeutung zu, denn nicht die Premieren, die das spezifische „Premierenpublikum” — das es in kleinen Theaterstädten in genau der gleichen Weise gibt wie in den „Zentren” — frequentiert, sondern die von Abonnenten besuchten Wiederholungen entscheiden heute stärker als jemals zuvor die Einstellung der „breiten Masse” zum Theater. Mehr als jemals zuvor schon deshalb, weil der Abonnent auch als Steuerzahler den ausnahmslos subventionierten, also von der „öffentlichen Hand” miterhaltenen Theatern gegenübertritt. Seine Unzufriedenheit kann er jetzt auf zwei Ebenen kundtun: einmal im Theater selbst und einmal, sagen wir, im Stadt- oder Landesparlament.

VOR DEN KÜNSTLERISCHEN PROBLEMEN der Repertoirevcfrstellung aber hat sogar Arturo Toscanini kapituliert. Als der berühmte Maestro an der New-Yorker „Met” wirkte, mußte er erfahren, daß man ihm die Proben, die er für die von ihm geleiteten Vorstellungen forderte, einfach nicht bewilligen konnte. Da er aber regelmäßiges, intensives Probieren als völlig unerläßlich für die Bewahrung des Ranges „seiner” Vorstellungen hielt, zog er es vor, der Bühne abzuschwören. Ganz genau gesagt: nicht der Bühne schlechthin, sondern ienen Opernhäusern, auf (įeren Bühnen länger dauernde Vorstellungsserien die Regel waren. Die andersgearteten Verhältnisse bei Festspielen schienen ihm auch dann noch künstlerisch vertretbar, ab er aus dem .Verband der ,.Met” schon aus- geschieden war. Schließlich aber hat sich Toscanini auf die reine Konzerttätigkeit zurückgezogen. Für jedes Konzert die ihm nötig erscheinende Vorbereitungszeit: das war für ihn die ideale Form der Kunstübung.

DASS DAS THEATER „TOSCANINI-BEDIN- GUNGEN” einfach nicht akzeptieren kann, leuchtet ein. Wenn an 300 Abenden im Jahr der Vorhang hochzugehen hat, kann nicht jede Aufführung eigens gründlich geprobt oder überholt werden. Für die Qualität der Repertoirepflege wird es also ausschlaggebend sein, wie dicht das Gerüst von „stehenden Vorstellungen” — darunter verstehen wir Aufführungen, deren Einzelheiten von jedem Ensemblemitglied exakt einstudiert sind, wobei auch das Zusammenspiel der Partner und die stilistische Einheitlichkeit in Spiel und Gesang gewährleistet sein müssen — gezogen werden kann. Das wieder wird im allgemeinen davon abhängen, wie viele Reprisen einer Vorstellung von dem für die Premiere oder’ für eine gründliche „Neueinstudierung” geschulten Personal geleistet werden können. Die Auswechselung auch nur eines Sängers kann bereits eine „stehende Vorstellung” weitgehend gefährden.

DIE ERFAHRUNG LEHRT, daß eine repräsentative Opernbühne kaum mehr als acht bis zehn Premieren und „Neueinstudierungen” im Laufe einer Saison herauszubringen vermag. Kann man diese Vorstellungen in der Originalbesetzung auswerten, ist bereits einiges zur Beseitigung der „Repertoireknse” vorgesorgt. Sind aber für die Premiere — und damit auch für die der Premiere vorangehende gründliche Einstudierung aller Einzelheiten der musikalischen Diktion und der schauspielerischen Darstellung — Künstler vorgesehen, von denen von vornherein bekannt ist, daß sie nur für wenige Abende zur Verfügung stehen, dann gleicht dies der Adaptierung von „Potemkinschen Dörfern”. Denn auch der Laie kann sich unschwer ausrechnen, daß nun neue Proben für die „nächste Garnitur” notwendig werden, für jene Künstler also, die in der „Repertoirevorstellung” die Aufgaben übernehmen, die von der „Premierenbesetzung” nicht mehr betreut werden.

VOM STANDPUNKT DER REPERTOIREPFLEGE GESEHEN, ist es daher eine unumgängliche No’wendigkeit, das Gros der Proben jenen Künstlern zu widmen, die in den Repertoirevorstellungen des jeweiligen Werkes auf- treten. Will man auf die Heranziehung von ..Stars” nicht verzichten, dann können diesen nur Gastspiele außerhalb des „normalen Betriebes” eingeräumt werden. Im Falle eines Gastspieles der Primadonna X oder des Startenors Y wird sich mit relativ kurzer Vorbereitungszeit schon deshalb ein zufriedenstellendes Ergebnis der „Gastspielabende” erreichen lassen, weil sich im Publikum die Maßstäbe erfahrungsgemäß verschieben: vor der Gesamtensemblewirkung dominiert dann die Begeisterung für diesen oder jenen „Star”, dessen Leistung zu erleben das Publikum gekommen ist.

EINE LEICHTE AUFGABE IST ES OHNEDIES NICHT, im Zeitalter der „Durchreiseengagements” das Spieljahr so aufzuteilen, daß eine möglichst große Anzahl von Vorstellungen im Sinne der oben gegebenen Definition als „stehende Vorstellungen” eingesetzt werden können. Sie ist nicht zu lösen, wenn man aus Gründen der Premierenoptik darauf verzichtet, die Proben jenen Künstlern zu widmen, die dann das „Repertoire” zu tragen haben. Die Vorbereitungen /für die genannten acht bis zehn Premieren und Neueinstudierungen verschlingen so viel Zeit, daß nur weniges daneben noch bewältigt werden kann. Ausführliche Proben mit Künstlern, die nur einen Teil der „stehenden Vorstellungen” selbst übernehmen, sind verschwendete Arbeit und vergeudete Zeit. Nur wenn man schon bei der Planung an die Repertoirevorstellungen denkt und ihren wichtigen Ansprüchen die ungeminderte Bedeutung zumißt, kann die heute immer wieder augen- und ohrenfällige Krise der „Repertoirevorstellungen” überwunden werden.

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