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Ersatz für Neues

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Unter diesen Titel hätte man auch den Bericht der vergangenen Woche über die Premieren der Staatsoper stellen können, die in der vergangenen Saison „Martha“ statt „Mathis“ und in der gegenwärtigen die „Kathrin“ statt der „Klugen“ auf den Spielplan gesetzt hat. In den Konzertsälen, wo man dem Neuen nicht mehr in so weitem Bogen ausweisen kann, werden kunstvolle Haken geschlagen, indem man ab und zu zeitgenössische Werke spielt, die freilich eher au der Nachhut als von Vertretern der Avantgarde zu tammen scheinen. Diese Förderung des Mittelmaßes und desEpigonentums dient höchstens der Förderung einzelner Künstler, nicht aber der Kunst; gleichzeitig wird das Publikum irregeführt, das vor jeder wirklich interessanten Begegnung mit der Gegenwart abgehalten wird. — Um Irrtümern vorzubeugen sei ausdrücklich erklärt, daß sich diese „Kritik“, die eigentlich nur eine Feststellung von Tatsachen ist, nicht ausschließlich auf die nachfolgend zu besprechenden Veranstaltungen bezieht, sondern aus dem Studium einiger Jahrespläne resultiert, die von den verschiedenen konzertveranstaltenden Gesellschaften vorgelegt wurden.

Hoffentlich sind Dauer und spezifisches Gewicht des — übrigens sehr geistvollen und brillant instrumentierten — Fünfminutenmarsches von Alfred Uhl, welcher das erste Konzert des Zyklus „Die große Symphonie“ eröffnete, nicht symptomatisch dafür, wie man im Laufe der kommenden Spielzeit im Rahmen dieser Reihe die zeitgenössische Musik zu pflegen gedenkt. Das von den Symphonikern ausgeführte Konzert wurde von dem Münchener Generalmusikdirektor Fritz Rieger geleitet. Der erwähnte „Sinfonische Marsch“, das Violinkonzert von Brahms und die Sechste von Bruckner bildeten das Programm. Rieger zeigte sich als geschickter Begleiter, aber als wenig berufener, robuster, zuweilen etwas grober Bruckner-Dirigent. An die Stelle der Nuancen treten schroffe Ubergänge, das ff übersetzt Rieger in gewaltigen, undifferenzierten Orchesterlärm, Gliederung und Aufbau wurden leider nicht deutlich. Das von Joseph Szigeti gespielte Violinkonzert von Brahms begleitete Rieger mit Routine und Geistesgegenwart. Obwohl die starke künstlerische Persönlichkeit de großen ungarischen Geigers sich auch im Vortrag des Brahms-Konzerts manifestierte (da wir in Wien, zumindest was absolute Reinheit und Schönheit de Tone betrifft, schon besser gehört haben), zeigten sich die hohen Qualitäten Szigette erst bei seinem Soloabend mit Prof. Schulhof als erstklassigem Begleiter. Ein in doppelter Hinsicht so „schweres“ Programm kann nur von einem hervorragenden Techniker mit starkem Temperament bewältigt werden: Bachs Sonate in C-dur und Partita in d-mpll für Violine allein, die Kreutzer-Sonate und Brahms op. 108 in d-moll. Jeder dieser drei Stile wurde von Szigeti sicher erfaßt und — trotz der leisen südöstlichen Tönung — überzeugend gestaltet. — Aus künstlerischen Gründen sind wir Szigeti auch dafür dankbar, daß er die Zugabe von Bonbon nach Absolvierung seines Programms verweigerte. Ein großer Geiger — ohne die Fadesse der „Sachllch-ke:t“ und dabei kein Podiumvirtuose —, da trifft man selten ...

Wäre es nicht auf dem Programm zu lesen gewesen, so würde niemand, der die Symphoniker unter Rieger und einige Tage später unter Karajan gehört hat, das gleiche Orchester als Ausführenden der VI. und VIII. Bruckner-Symphonie erkannt haben. Diese Beobachtung widerlegt die Meinung der Puristen und musikalischen Vegetarier, daß es auf den Interpreten, in diesem Fall den Dirigenten, nicht so sehr ankomme. Große, hinreißende Kunst beginnt genau dort, wo die „Interpretation“ aufhört. Versuchen wir, einige Voraussetzungen und Merkmale dieser denkwürdigen Aufführung — Bruckners Achte unter Herbert von Karajan — festzuhalten. Durch die- dem Konzert in Bayreuth vorausgegangene Vorbereitung war das Werk so gut geprobt, daß bei der Aufführung im Großen Musikvereinssaal der Dirigent kaum mehr durch Details abgelenkt war, nur selten dynamisch zu nuancieren brauchte. Seine Aufmerksamkeit ist gleichsam nach innen gerichtet: auf Ablauf, Aufbau und expressiven Gehalt des Werkes. Diese Aufmerksamkeit und Spannung scheint keinen Augenblick lang gestört — eben weil es nicht mehr der Augen-Blicke zu den einzelnen Musikern bedarf. Von dem, was er ausdrücken will, hat Karajan eine vollkommen klare Vorstellung, die sich sowohl auf die Konstruktion als auch auf die „Stimmung“, den Gehalt und das seelische Klima einer bestimmten Komposition bezieht. Im allgemeinen scheint Karajan jede Musik irgendwie als tragisch und Schönheit, in ihrer höchsten Steigerung, als schmerzlich-leidvoll zu empfinden — eine Auffassung, die weder durch die Existenz der Operettenmusik noch durch die „Heiterkeit“ Mozarts zu widerlegen ist. Die Musik der Achten ist von der Wagners geistig durch eine Welt geschieden) aber sie hat, besonders im Adagio, viel vom Wagnerschen Chroma, und für dieses besitzt Karajan ein sehr geschärftes Gefühl. Ebenso stark empfindet er das Elementare, das Chthonische der Brucknerschen Musik, wie es in den Scherzi zum Ausdruck kommt, für jenes Element, das wir auch — in extremer Ausprägung — in Strawinskys „Sacre du Printemps“ finden und wofür die Kennzeichnung vom „deutschen Michel“ eine sehr harmlose und oberflächliche Umschreibung ist. — Die Ur-fassung mit ihren gewaltigen Längen im letzten Satz (das ganze Werk dauert volle anderthalb Stunden) ist für viele Dirigenten eine Gefahr, die dem Hörer in der Interpretation Karajan gar nicht zum Bewußtsein kommt. — Diesen „Ersatz für Neues“ wollen wir dankbar gelten lassen!

Gemeinsam mit der „österreichischen Gesellschaft für zeitgenössische Musik“ veranstaltete das Wiener Kammerorchester unter Franz Litschauer ein Konzert, in dessen Rahmen zwei Werke lebender österreichischer Komponisten aufgeführt wurden: eine gutgearbeitete, leider der persönlichen Faktur entbehrende fünfteilige Partita von Max H a a g e r und die gutklingende, virtuos-farbige „Musik für Trompete und Streichorchester“ von Armin Kaufmann. — Kurt Rapf und seinem „C o 11 e g i u m m u s i C u m“ danken wir eine ausgezeichnete Aufführung der Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug von B 6 1 a Bartök. (Der Leiter des Col-legiums, H. Schwertmann am zweiten Flügel und vier Schlagwerker waren die Ausführenden.) Dieses Werk, das zu den erregendsten und extremsten der neuen Musik gehört, stellt mit seinen konstruktiv verwendeten Motiven, Skalen, Flächen und Gruppierungen eine interessante Parallele zu den Bildern der abstrakten Maler dar und gewinnt — was man von nur wenigen Werken der anderen Fakultät sagen kann — bei jeder neuen Begegnung. Der elementaren Wirkung konnte sich auch das (übrigens sehr zahlreiche) Publikum nicht entziehen und verlangte nachdrücklich die Wiederholung des letzten Satzes: ein neuer Beweis dafür, daß man es auch mit wirklich neuer Musik getrost versuchen kannj ein Beweis freilich auch dafür, daß gültige Kunst nicht im guten Glauben an die alten Mittel, sondern nur aus einer neuen Kunstgesinnung heraus mit neuen Mitteln zu schaffen ist.

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