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Unbesiegbare Flamme

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Als im Oktober 1956 die Hunderttausend aus dem brennenden Budapest flüchteten, hätte ein überirdisches, von oben herabblickendes Auge in dem sich westwärts bewegenden Strom als winzige schwarze Punkte auch einige hundert Musiker, manche von ihnen mit Instrumenten im Arm, wahrnehmen können. Sie alle strömten über die burgenländische Grenze nach Oesterreich herüber, für die meisten war das Ziel Wien. — Hier, an einem grauen Vormittag, begegneten wir den ungarischen Musikern zum erstenmal, und zwar in einem Proberaum der Wiener Philharmoniker im Musikverein. Da standen sie, meist jüngere Männer, auch ein paar Frauen, einige mit, die anderen ohne Instru mente. Einer der Musiker trug einen Kopfverband, ein anderer hielt ein durchschossenes Cello im Arm (das nicht mehr repariert werden konnte und bald durch ein neues ersetzt wurde). Als kostbarsten Besitz aber hatten sie nicht ihre Instrumente, sondern ihr Können mitgebracht. Denn diese Musiker, die sich hier, von der Forum-Kulturhilfe betreut und registriert, eingefunden hatten, kamen von den besten Orchestern Ungarns, die meisten vom Budapester Radiosymphonieorchester und aus dem des Opernhauses. Einige Wiener Musikfachleute waren gebeten worden, sich ein Probespiel der ungarischen Musiker anzuhören: Dr. Karl Böhm, der Komponist Gottfried von Einem, der Vorstand der Wiener Philharmoniker und der Verfasser dieses Berichtes. An ein Zusammenspiel war natürlich noch nicht zu denken, aber es fand sich ein Klavierbegleiter, und die einzelnen Instrumentalisten zeigten, soweit sie im Besitz von Instrumenten waren, ihre Künste. Schon damals wurde uns klar, was für ein Ensemble von Solisten sich da zusammengefunden hatte, und kein einziger der Kandidaten — von denen übrigens 80 Prozent die Matura hatten — mußte zurückgewiesen werden.

Denn es ging um die Gründung eines Orchesters. — Der Name war bald und als erstes gefunden. Mit der Finanzierung ging es schwieriger. Etwa 70 Musiker waren zu betreuen, mit den Familienangehörigen 120 Personen. Instrumente mußten gekauft. Wohn- räume für die einzelnen und die Familien sowie ein Uebungssaal fürs Orchester bereitgestellt werden. Hierfür würde man im Monat etwa 250.000 österreichische Schilling brauchen. Da sprangen, zunächst mit monatlichen Zuwendungen, die folgenden Organisationen und Stiftungen ein: die Rockefeller- und die Ford-Foun- dation, das International Rescue Committee und das Schweizerische Hilfskomitee für die Freiheitskämpfer Ungarns. Die Hauptinitiative lag beim Kongreß für die Freiheit der Kultur, in dessen Auftrag bald nach der ersten Versammlung des Orchesters Nicolas Nabokov nach Wien kam, der gemeinsam mit dem selbstgewählten Orchestervorstand das Nötige veranlaßte. Zu Beginn des Jahres 1957 wurde ein 100-Tage- Programm ausgearbeitet und das Orchester in dem dafür gemieteten Kurhotel der Stadt Baden bei Wien einquartiert. Hier begann unter der Leitung des gleichfalls aus Ungarn geflüchteten jungen Dirigenten Zoltan Rozsnay eine intensive Probenarbeit. Aus den 70 Musikern sollte ein homogener Klangkörper entstehen. Bald darauf konnte die Presse zu einem ersten Vorspielen eingeladen werden — und war von den Leistungen ehrlich beeindruckt. Man spielte Bach, eine Haydn-Symphonie und das „Divertimento“ von Bartok.

Das Wohlwollen, welches dem ungarischen Exilorchester von allem Anfang an sicher war, hätte — besonders in Wien — nicht genügt, sein erstes öffentliches Konzert zu einem solch stürmischen Erfolg werden zu lassen. Publikum und Kritik spürten sofort, daß man es hier mit einem aus hervorragenden Musikern bestehenden Klangkörper zu tun hat, der mit der Zeit auch noch an Homogenität gewinnen würde. — Bald interessierte sich auch Yehudi Menuhin für das neue Orchester. Er besuchte die „Philharmonia Hungarica“ in Baden, verabredete ein Konzert — das später auch stattfand, und zwar mit Eurovisionsübertragung — und schrieb dem Orchester jene Sätze ins Stammbuch, die dann immer wieder auf den Programmen standen:

„Das freie ungarische Orchester repräsentiert das Lebensblut der nationalen Kultur Ungarns. Es ist unser Privileg, dieses große Symbol int Exil in der Hoffnung zu bewahren, daß es die unbesiegbare Flamme Ungarns lebendig erhalten wird.“

Solche Teilnahme und Anerkennung waren dringend nötig. Denn es kamen bald Zeiten der Depression, verursacht durch die Unsicherheit der finanziellen Basis. — Das ehrenamtliche Kuratorium, in welches sich die eingangs erwähnte „Prüfungskommission“ verwandelt hatte, konnte nicht viel mehr tun, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie dieses so glücklich und schwungvoll begonnene Unternehmen enden würde, und mit ehrlicher Sorge dachten die Freunde des Orchesters an den Tag, da man den einzelnen Mitgliedern würde sagen müssen: die Mittel sind zu Ende, das Orchester muß aufgelöst werde, jeder sehe, wo er bleibe. — Aber immer wieder gelang es, die Mittel zu beschaffen, von drei zu drei Monaten, von Halbjahr zu Halbjahr. Nicolas Nabokov, als Vertreter des Kongresses für die Freiheit der Kultur, war unermüdlich, und die großen amerikanischen Stiftungen hatten erkannt, was hier auf dem Spiele stand.

Fast drei Jahre blieb das Orchester in Wien. Hier konzertierte es unter seinen eigenen und verschiedenen Gastdirigenten im Großen Musikvereinssaal und im Konzerthaus, während der Saison und bei den Internationalen Musikfesten. Ungezählte Male sind einzelne Musiker in anderen Orchestern aushilfsweise eingesprungen: die „Philharmonia Hungarica“ hat sich einen Platz im Wiener Musikleben erobert. Da aber

Wien eine ganze Reihe eigener Orchester besitzt, konnten sich weder Staat noch Stadt zu einer Uebernahme des ganzen Ensembles entschließen, und so begann die „Philharmonia Hungarica“ zu gastieren. Sie konzertierte in Westdeutschland und in der Schweiz, in Belgien, Frankreich, Holland und Italien — und brachte von überall die besten Kritiken mit nach Hause.

Nach Hause — das bedeutete für die Mitglieder des Orchesters immer: nach Wien. Hier gab die „Philharmonia Hungarica“, und zwar im Großen Musikvereinssaal, auch ihr Abschiedskonzert. Vor Beginn trat ein Sprecher des Orchesters neben das Pult des Dirigenten und sagte:

„Die Mitglieder des Orchesters ,Philharmonia Hungarica nehmen Abschied nach dreijährigem Aufenthalt von Oesterreich und seiner Hauptstadt. Für uns ist dieser Abschied nicht einfach. Wir bedanken uns mit Musik für alles, was dieses Land und seine Bürger für unser Orchester und seine Angehörigen, unter vielen zehn- tausenden Flüchtlingen, getan haben. Die Gründung unseres Orchesters war nur in einem Land möglich, dessen Bürger die Freiheit und die Musik lieben und uns die Möglichkeit gaben, ein neues Leben zu beginnen. Wir wollten in diesen drei Jahren beweisen, daß wir das uns entgegengebrachte Vertrauen verdient haben. Außer den mehr als 100 Konzerten in Oesterreich haben wir Gelegenheit gehabt, mehrere Tourneen in Europa zu machen, und kehrten vor einigen Tagen von einer ausgedehnten Kanada- Amerika-Tournee nach Wien zurück. Ueberall, wo wir auf dieser Tournee konzertierten, war auf den Plakaten Wien als unsere Heimatstadt angegeben. Zu unseren schönsten Erinnerungen gehören Gratulationen von Oesterreichern in den Vereinigten Staaten, die uns gesagt haben, daß auch sie auf unsere Erfolge stolz sind.“

Es war ein Abschied und ein Fest zugleich, denn die „Philharmonia Hungarica“ verläßt Wien nicht in Richtung „ungewisse Zukunft“: Die westdeutsche Bundesregierung und die Stadt Marl in Westfalen bieten dem Orchester und seinen Mitgliedern eine neue Heimat. Die junge, aufstrebende Industriestadt hat bereits ein Theater und eine große Konzerthalle. Auclj die Wohnungen sind schon bereitgestellt: Für die alleinstehenden Mitglieder ein achtstöckiger Wohnblock, für die Familien kleine Ein- und Zweifamilienhäuser. Der Initiative des Marler Bürgermeisters Heiland ist es wohl auch zuzuschreiben, daß das Orchester seinen Namen behalten und eine Straße nach ihm benannt wird. — 'Jetzt schon sind einzelne polnische, jugoslawische, rumänische und ostdeutsche Flüchtlinge zur ..Philharmonia Hungarica" gestoßen. Vielleicht werden noch weitere folgen die alle in dem neuen Stadtorchester von Marl eine neue Heimat finden sollen.

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