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Unter Bernstein und Stokowski

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Elliot Carters Auftragswerk zum 125jährigen Jubiläum des New Yorker Philharmonischen Orchesters wurde, mit starker Verspätung, erst im 126. Jahr des Bestehens des Ensembles uraufgeführt: Die Gäste des Jubiläumsjahres haben freilich nicht allzuviel versäumt. Der Ausspruch eines Zuhörers ersetzt die Kritik: Der Herr im Foyer bemerkte nämlich, es sei ihm unbegreiflich, wie soviel Geräusch zu Papier gebracht werden könne ... Der Komponist gehört keiner Schule an, geht seinen privaten Weg, ist kompromißlos. Substanz ist schwer herauszuhören. Die etwa 20 Minuten Geräusch, die Carter zu Papier brachte, haben mit Musik oder gar Melodie oder Form wenig zu tun. Es war alles recht sauber aufgebaut und organisiert, manchmal technisch brillant konzipiert, aber selbst ein Tausendsassa wie Leonard Bernstein, der sich gewiß zu den Förderern neuer Musk zählt, konnte sich offenbar für das Carter-Opus nicht begeistern.

Der konventionelle Teil des Programms brachte die zu Unrecht meist übergangene „Dritte“ von Tschai-kowsky (auch „Polnische Symphonie“ genannt), und der Dirigent akzentuierte die Details mit liebevoller Behutsamkeit und voller Beachtung der Tempi.

Auch in Haydns 103. Symphonie war Bernstein voller Leben, Enthusiasmus und Dynamik, und die „New Yorker“ klangen an jenem Abend so, wie wenn eben „Lenny“ und kein anderer am Pult steht.

Das American Symphony Orchester (ständiger Dirigent: Leopold Stokowski) unter Gastdirigent Hans Werner Henze hatte zwei neue Darbietungen aufzuweisen. Luigi Nonos „Per Bastiana Tai-Yang Chung“ (Sonnenaufgang für Bastiana, zur Geburt seiner zweiten Tochter geschrieben) besteht aus elektronischen, auf Tonband festgehaltenen Klängen, verbunden mit der Improvisation eines ins Dreifache geteilten Orchesters. Reguläre Themenstrukturen werden durch irreguläre, bizarr kontrastierende Klangmuster ersetzt. Aparter wirkte die in der Struktur ähnliche VI. Sinfonie von Henze. Das in zwei Kammermusikgruppen geteilte Orchester erhält neue Klangvolumen durch eine elektrische Orgel und Violine sowie durch eine Anzahl Schlagzeug- und Zupfinstrumente. Henze ist trotz vieler Serien und Vierteltöne ein Melodiker geblieben — mediterran, gefühlsbetont, Lyriker und Dramatiker zugleich. Seine Sprache ist sensibel, erfühlt, manchmal dämonisch oder höhnisch ... jedoch ist sein Vokabular jederzeit musikalisch verständlich. Die Uraufführungsstätte war Havana, Cuba, aber es ist wohl nicht allein auf diese Assoziation zurückzuführen, daß in der Musik vieles einem Straßenzug mit Freiheitskämpfen und deren Aufschreien erinnert. Die erstklassigen Musiker von Stokowskis Orchester hatten das Werk mit dem Komponisten gründlichst einstudiert und verhalfen ihm und der neuen Komposition zu einem starken Erfolg. Die Aufführungen von Beethovens „Fidelio“ in der New Yorker Philharmonie haben lebhafte Diskussionen über Darbietungen von Opern auf dem Konzertpodium entfesselt: Zyniker waren der Ansicht, daß diese „Fidelio“-Aufführungen in der Philharmonie Hall eine Art Generalprobe war für die Aufführung, die Bernstein im Rahmen der Festwochen in der Wiener Staatsoper dirigierte. Als im vergangenen Herbst die Julliard School im Lincoln Center-Trakt eröffnet wurde, hielt der Dirigent eine Ansprache, in der er erklärte, daß die Schule mit ihren jungen Künstlern, aus deren Reihen die Stars und großen Solisten von morgen hervorgehen werden, dem Lincoln Center seine eigentliche Existenzberechtigung gäbe. Und er setzte diese Theorie in Taten um und holte sich als Chor und Solisten die begabtesten Studenten des American Opera Center an der Julliard School — unbekannte Namen, die aber nicht lange unbekannt bleiben werden; jedenfalls bewies er, was er in vielen seiner Jugendkonzerte schon oft bewiesen hat, daß das musikalische Nachwuchspotential hier enorm ist und man sich keine Sorgen um die Zukunft des schaffenden und nachschaffenden Musiklebens Amerikas machen muß. Wenn jungen Menschen Gelegenheit gegeben wird, sich und ihr Talent zu beweisen, nur wenn jemand ihnen eine Chance gibt, Erfahrungen zu sammeln, und diese Erfahrungen unter solcher Führung, wie Bernstein sie zu geben versteht, zu untermauern, wird eine neue Generation heranwachsen, die das amerikanische Musikleben und -schaffen bereichern kann. Der enthusiastische Beifall des Publikums zeigte, daß es keineswegs der Ansicht war, daß es sich hier um eine „Generalprobe“ handelte. Es verstand sehr wohl, was Bernstein beabsichtigt und brillant durchgeführt hatte.

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