"‚Mutter‘ sagen, das konnte ich nie zu ihr“

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Im Alter von acht Monaten wurde Gloria Dürnberger von ihrer psychisch kranken Mutter in eine Schachtel gelegt und weggegeben. Im Film "Das Kind in der Schachtel“, der mit dem Publikumspreis der Diagonale ausgezeichnet wurde, konfrontiert sie ihre leibliche Mutter mit ihrem Unverständnis für die damalige Tat - und versucht die Hintergründe auszuleuchten. Die FURCHE traf die Jungregisseurin zum Gespräch.

Die Furche: Was war für Sie der Auslöser, Ihre eigene Geschichte zu verfilmen?

Gloria Dürnberger: Zu Beginn stand die Erkenntnis, dass ich kein gemeinsames Foto mit meiner leiblichen Mutter habe. Auf einem Foto von zwei Menschen kann man erkennen, welche Beziehung sie haben, doch wenn es dieses Foto nicht gibt, dann gibt es auch keine Beziehung. So entstand die Ursprungsidee, ein bewegtes Bild von uns beiden zu machen.

Die Furche: Es gibt zumindest jenes titelgebende Bild, das Sie in einer Schachtel zeigt …

Dürnberger: Das Foto ist symbolisch für das Gefühl, das ich gegenüber meiner Geschichte habe. Ich bin erst beim Probedreh draufgekommen, dass es diese Fotos gibt. Da hat die Margit, die vorher immer gesagt hat "Es gibt keine Fotos“, plötzlich diese Bilder ausgepackt …

Die Furche: Sie nennen ihre Mutter beim Vornamen. Ist das Gefühl, dass sie Ihre Mutter ist, nie entstanden?

Dürnberger: Nein, und das wird auch in dieser Form nicht mehr entstehen. Das war früher noch viel schlimmer. Das Wort Mutter im Kontext mit der Margit konnte ich früher überhaupt nicht sagen. Erst bei diesem Film habe ich damit begonnen. Für mich ist meine Mama ganz einfach meine Pflegemama; das ist die Frau, die immer für mich da war.

Die Furche: Hat Ihre leibliche Mutter verstanden, worum es Ihnen geht in diesem Film?

Dürnberger: Ich glaube, der Film ist sehr nebensächlich für sie. Sie hat in ihrem Leben viel größere Probleme als jenes, in diesem Film vorzukommen. Aber es ist ihr wichtig, mir eine Freude zu machen. Deswegen war sie auch bereit, sich filmen zu lassen.

Die Furche: Wann haben Sie das erste Mal erfahren, dass Sie bei Pflegeeltern leben?

Dürnberger: Ich wusste immer, dass ich ein Pflegekind bin. Ich habe mich als Teil der Familie gesehen, und meine Eltern haben mich zu eintausend Prozent als Teil der Familie gesehen. Die Margit war alle zwei Wochen da, exakt für zwei Stunden, immer Mittwoch Nachmittag, somit war das kein Geheimnis, aber es wurde sehr wenig darüber gesprochen. Meine Eltern hatten eher die Haltung, wenn wir nicht darüber reden, gibt es auch keine Probleme.

Die Furche: Wie bedeutsam sind die ersten acht Monate für Ihre Geschichte?

Dürnberger: In diesen acht Monaten hatte ich noch keine eigene Sprache und konnte nicht ausdrücken, was mit mir los ist. Ich vermute, dass es für mich das Beste gewesen wäre, wenn sie mich gleich weggegeben hätte. Kinder beginnen im siebten, achten Lebensmonat mit dem "Fremdeln“, also sie entwickeln die dubiose Angst, dass die Eltern nicht mehr zurückkommen, wenn sie den Raum verlassen. In dieser Zeit lernen die Kinder, dass die Eltern eben doch wieder kommen. Doch ich musste lernen, dass meine Mama nicht mehr zurückkommt.

Die Furche: Es gibt eine Szene, in der Margit Ihnen Weihnachtsgeschenke überreicht. Sie sind sehr ehrlich und sagen: "Margit, das ist nix, das will ich nicht. Du gibst mir eine Hose, die ist mir drei Nummern zu groß“. Und dann kommt sie mit anderen Geschenken: "Die sind jetzt schon für nächstes Jahr“.

Dürnberger: Ich habe massenhaft Geschenke bekommen, weil Margit mir sonst nicht zeigen konnte, dass ich ihr wichtig bin. Sie hat wohl versucht, mich ein bisschen zu kaufen, und es ist ihr auch gelungen. Als ich mit elf eine Babyrassel bekommen habe, dachte ich, jetzt wird es nicht mehr so schön. Im Film ist es dann erstmals passiert, dass ich gesagt habe: "Was denkst Du Dir dabei?“ Sie konnte dazu nichts sagen. Auch, als ich wissen wollte "Wie war das damals? Warum hast du mich abgegeben?“ musste ich ihr alles aus der Nase ziehen. Letztlich bleibt mir wohl verborgen, wie es tatsächlich war - oder was der Grund dafür ist, dass sie mir ein T-Shirt geschenkt hat, auf dem vorne groß steht: SOS.

Die Furche: Im Film legen Sie sich als Erwachsene wieder in eine - viel größere - Schachtel. Das ist ein schöner Brückenschlag …

Dürnberger: Ja. Ein Happy End gibt es nicht, aber ich habe jetzt das Gefühl, dass ich zu meiner Geschichte stehen kann und meinen kindlichen Gefühlen gegenüber nicht mehr gar so ausgeliefert bin.

Das Kind in der Schachtel

A 2014. Buch/Regie: Gloria Dürnberger. Mit Margarete Dürnberger, Gloria Dürnberger, Evelin Höller, Helmut Höller. Polyfilm. 85 Min.

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