Mutter und Muse der Moderne

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Gertrude Stein strich Ernest Hemingway die Adjektiva.

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Gertrude Stein strich Ernest Hemingway die Adjektiva.

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Wie erzählt man von einer Frau, deren Werke nur wenige kennen? Die Zahl derer, die diese Werke schätzen, ist noch geringer. Und doch hat sie den Ruf, das moderne Schreiben nachhaltig beeinflußt zu haben: Gertrude Stein. Geboren wurde sie vor 125 Jahren, am 3. Februar 1874 in Pennsylvania. Die Eltern: jüdische Emigranten. Ihr Vater wurde durch Textilhandel reich. 1875 ließen sich die Steins für drei Jahre in Wien nieder. Später schrieb die Autorin: "Und wir waren also in Wien, und ich habe es nie wieder gesehn, aber es ist für mich stets etwas sehr Wirkliches geblieben."

Ihre erste Sprache war Deutsch. Das Englisch, das sie nach der Rückkehr in die USA zu Hause hörte, war eine Immigrantensprache mit reduziertem Wortschatz und einfachster Syntax: Merkmale, die ihr literarisches Werk kennzeichnen sollten. Mit vierzehn verlor Gertrude Stein ihre Mutter und klammerte sich an ihren zwei Jahre älteren Bruder Leo. Eine Boheme-Existenz begann. Die Kinder hatten - trotz des vielen Geldes des Vaters - niemanden, der sich um sie kümmerte. Gertrude aß bis zur Unförmigkeit, ihr Bruder wurde magenkrank. Die neueste Biographie der Geschwister deutet auch an, daß zwischen ihnen eine inzestuöse Beziehung bestand. Nach dem frühen Tod des Vaters besuchten beide die Harvard Universität. Gertrude Stein studierte Psychologie beim Bruder des berühmten Schriftstellers Henry James, William James, und anschließend Medizin. Die Familiengeschäfte führte ein älterer Bruder, der seinen Geschwistern ein finanziell sorgloses Leben ermöglichte. Leo ging nach Europa, ließ sich in Paris nieder. Die Schwester folgte. In Paris bezeichnete man die resolute dicke junge Frau und ihren hoch aufgeschossenen Bruder nur als "die Gebrüder Stein". Beide hatten einen Geschmack auf Neues, Aufregendes in der Kunst, lernten Maler, Schriftsteller, Musiker kennen, waren mit Matisse und Picasso eng befreundet. Ihre Wohnung wurde zum Magneten für Neugierige, die die wachsende Bildersammlung der Geschwister sehen wollten. Es kamen auch Diskussionswütige und Leute, die gutes Essen und guten Wein schätzten. Amerikaner, die aus der prüden Heimat ins Sündenbabel an der Seine geflohen waren, fanden hier Anregungen, die Ärmeren unter ihnen auch Unterstützung.

Und dann der dramatische Bruch zwischen Gertrude und Leo. Sie hatte zu schreiben begonnen, er machte sich über die literarischen Versuche der Schwester lustig. Sie schrieb weiter. Und lernte eine drei Jahre jüngere Amerikanerin kennen, die bald in die Wohnung der Geschwister einzog, sich unentbehrlich machte, für Gertrude Stein tippte: Alice B. Toklas, eine Jüdin aus San Francisco. Der Freundeskreis nahm die Beziehung zur Kenntnis; die beiden Frauen blieben bis zum Tod Gertrude Steins zusammen, doch Leo verließ Paris und sprach nie mehr ein Wort mit seiner Schwester. Die Bildersammlung teilten sie, und allmählich füllten sich auch die leeren Wände wieder.

Gertrude Stein schrieb unverdrossen weiter, Buch um Buch, ohne einen Verleger zu finden. Von ihren berühmten Maler-Freunden fertigte sie Wort-Porträts an, das einzige, was in Avantgarde-Zeitschriften erschien. Andere, die zugaben, von ihr gelernt zu haben, kamen zu Ruhm und Ansehen: Ernest Hemingway, dem die Stein in seinen Manuskripten die meisten Eigenschaftswörter gestrichen hatte, eilte von Erfolg zu Erfolg, ebenso Sherwood Anderson.

Was stand und steht der Wertschätzung von Gertrude Steins Prosa im Weg? "Sie schreibt so langweilig", ist das häufigste Verdikt. Und tatsächlich: Ihre "Romane" kommen eigentlich ohne Handlung aus. Ihre Sätze wiederholen sich mit kleinen Variationen. Satzzeichen verachtet sie. Der Wortschatz ist einfachstes Englisch. Aber was für ein Rhythmus! Was für ein Bewußtsein, daß Sprache nicht nur der Mitteilung dient, daß Wörter wie Objekte aufgenommen werden können, betrachtet werden können wie Dinge. Ihr berühmtester Satz ist: "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose." Dichter lieben sie für diesen Satz. Besagt er doch, daß man gewisse Dinge eben nicht definieren kann, daß die Wiederholung eines Wortes die Intensität der Vorstellung eines Dinges verstärkt. Wer sich von der Sprache nur Mitteilung erwartet, dem ist solches Denken fremd. Übrigens taucht der Satz in ihrem einzigen Kinderbuch auf, das in den USA ein gewaltiger Erfolg wurde, "Die Welt ist rund". Ein Mädchen lernt in der Schule, daß die Welt rund ist. In einem Wald schreibt das Kind, das Rose heißt, in die Rinde eines Baumes, rundherum: "A rose is a rose is a rose." Was für ein Bild!

Das zweite Buch, das der unverdrossenen Autorin den Durchbruch bescherte, war die "Autobiographie von Alice B. Tolkas". Damals war Gertrude Stein 58 Jahre alt. Ein Verwirrspiel: Die Freundin Alice ist die Erzählerin in dem Roman, den Gertrude Stein schreibt, indem sie die Stimme von Alice nachahmt. Mit einem Schlag war Gertrude Stein über Paris hinaus berühmt, wurde nach Oxford, Cambridge, in die USA zu Vortragstourneen eingeladen, hofiert, geehrt, bewundert. Viele Moderne sind dieser Frau inzwischen gefolgt in der Einsicht, daß Schreiben nicht nur heißen muß, Geschichten zu erzählen. Auch Österreicher: Thomas Bernhard, Peter Handke. Gertrude Stein starb 1946 in Paris an Magenkrebs.

Schwester Bruder. Gertrude und Leo Stein. Von Brenda Wineapple. Deutsch von Roseli und Sakia Bontjes van Beek. Arche Verlag, Zürich 1998. 672 Seiten, geb., öS 526,Gertrude Stein. Von Stefana Sabin. Rowohlt Verlag, Hamburg 1998. 120 Seiten, Tb., öS 94,-

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