Mystikerin, Ketzerin, Schriftstellerin

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Vor 200 Jahren, am 30. Juli 1818, wurde im englischen Thornton die Schriftstellerin Emily Brontë geboren. Die jüngere Schwester von Charlotte Brontë wurde nur 30 Jahre alt, hinterließ aber mit ihrem einzigen Roman ein bis heute faszinierendes Stück Weltliteratur.

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Vor 200 Jahren, am 30. Juli 1818, wurde im englischen Thornton die Schriftstellerin Emily Brontë geboren. Die jüngere Schwester von Charlotte Brontë wurde nur 30 Jahre alt, hinterließ aber mit ihrem einzigen Roman ein bis heute faszinierendes Stück Weltliteratur.

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Ihre Lebensgeschichten sind Legende, sie lesen sich selbst wie ein großartiger, tragischer und viel zu kurzer Roman. Von den Brontë-Schwestern, die Anfang des 19. Jahrhunderts Weltliteratur geschrieben haben, starben alle jung. Charlotte, 1816 geboren, starb 1855, Emily, geboren 1818, starb 1848, Anne, geboren 1820, starb 1849. Charlotte ging mit "Jane Eyre" in die Literaturgeschichte ein, Anne wurde eher vergessen und Emily Brontë, die mit "Sturmhöhe" ein formal und inhaltlich auffallendes und einzigartiges Werk geschrieben hat, ist hierzulande trotz vieler Übersetzungen erstaunlich wenig bekannt.

In einem den Winden ausgesetzten Pfarrhaus in Haworth, umgeben von Wiesen und Moor, wuchsen die sechs Kinder ohne Mutter heran, diese war gestorben, als Emily drei Jahre alt war. Der Vater, Pfarrer der Church of England, versorgte seine Kinder mit Lesestoff. Es gab kein Spielzeug und keine Kinderbücher, aber Zeitungen und Journale. Unter den Geschwistern entstand eine Schreibgemeinschaft, die ihresgleichen suchen kann. Mit fiktionalisierten Persönlichkeiten -Politiker, Ärzte, Schriftsteller, Künstler -statteten die Kinder ihre Fantasieländer Angria und Gondal aus, diskutierten in ihren literarischen Entwürfen auch mehr und mehr die Gesellschaft und die Fragen ihrer Zeit. Aus teils auch klitzekleinen vollgeschriebenen Zetteln (sie nahmen, was nur irgendwie zum Schreiben brauchbar war, Papier war teuer) banden sie mit Nadel und Faden Buch um Buch. Noch als Erwachsene wird Emily über Gondal schreiben, auch ihre Gedichte nehmen Bezug auf dieses fiktive Land.

Gedichte -und ein Roman

Literarisch ragt Emily unter den begabten, schreibenden drei Brontë-Schwestern hervor. Ihr 1847 erschienener Roman "Wuthering Heights" ("Sturmhöhe") fordert heute noch Übersetzer heraus und lässt aufgrund der vielen Dialekte, Stimmen und Flüche die in Englisch nicht so Sattelfesten beim Lesen des Originals oft verzweifeln. Das heimatliche Haus verließ Emily Brontë nur für wenige Ausnahmen. Ihr Internatsleben wurde abgebrochen, nachdem die beiden älteren Schwestern todkrank nach Hause gekommen und gestorben waren. Später ging Emily mit Charlotte zum Unterricht nach Brüssel. Als aber die Tante, die sie nach dem Tod ihrer Mutter versorgt hatte, starb, kehrte sie zurück. Auch ihre Zeit als Lehrerin war kurz. Kaum war sie wieder zuhause, blühte sie auf. In diesem Kosmos des heimatlichen Pfarrhauses, als Kontakt zur Welt Zeitungen und Journale, isoliert von Zeitgeist, Moden, literarischen Zirkeln, aber umgeben von Büchern, die sie ständig, auch beim Bügeln, las, schrieb sie ihre Gedichte. Teils romantisch, teils balladenartig, teils naturalistisch, vor allem aber immer musikalisch. Als "Mystikerin, christliche Lyrikerin, Häretikerin, Heidin, intellektuelle Denkerin" und "emotionale Schriftstellerin" wurde sie bezeichnet. "Die Hervorhebung irgendeiner dieser Facetten ihres Geistes oder ihrer Natur dürfte, wie unterhaltsam auch immer das sein mag, in die Irre führen, denn keine davon wird ihr in ihrer Integrität als literarische Schriftstellerin gerecht", schrieb Biografin Muriel Spark. Wenn Mystikerin, dann eine "Mystikerin der Leidenschaft". Kometenhaftes Phänomen, große romantische Eremitin oder zutiefst individualistische Ketzerin? Emily Brontë war alles zugleich, meint Muriel Spark.

Eines Tages fand Schwester Charlotte Emilys Gedichte. Sie sorgte dafür, dass ein Band mit Gedichten von allen drei Schwestern unter den Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell (die Initialen verweisen auf die Autorinnen) erschien. Die Kosten für den Druck hatten die Schwestern selbst zu tragen. 1846 erschien der Band, genau zwei Exemplare sollen davon verkauft worden sein.

Die männlichen Pseudonyme hatten ihren Grund. Schon früher hatte Charlotte auf ihre Bittschrift an Robert Southey (der heute nicht so berühmt ist wie die Brontë-Schwestern) folgende Antwort erhalten: "Literatur kann und soll nicht der Lebensinhalt einer Frau sein." Solchen Absagen entgingen die Schwestern mit männlichen Pseudonymen auch bei ihren Romanen. Emily etwa (als Ellis Bell) bei dem heute noch aufschreckenden Roman "Wuthering Heights". In ihm werden Abgründe schonungslos erzählt, Gewalt (auch in der Ehe), Unrecht, Rache, Triebe. In ihm erhält aber auch die Sprache eine Hauptrolle. Modern muten die Erzählperspektiven an: Alles, was erzählt wird, erfährt man durch Erzähler, über deren Verlässlichkeit man nachdenken sollte, Harmonisierung ist nicht geplant, radikal der Einsatz verschiedener Stimmen. Sonderbarerweise (oder eben auch nicht: typisches Schicksal einer Frau) sucht man in vielen Büchern über das Böse in der Literatur Emily Brontës Namen vergebens. Dabei hat sie sich in ihrem Roman -Jahrzehnte vor Sigmund Freud und dem Beginn der Psychoanalyse - der Schattenseite des Menschen, aber auch der Leidenschaft angenommen wie kaum eine andere.

Interpretiert durch ihre Schwester

Interpretiert wurde Emily für die Nachwelt vor allem durch Charlotte. Bei aller Schwesternliebe: Das war nicht immer gut. Auffällig sind Charlottes Versuche, den Leserinnen und Lesern Anstößiges zu erklären. In ihrem Vorwort zur Neuausgabe von "Sturmhöhe" etwa schreibt sie: "Das Buch ist ländlich durch &durch. Es ist morastig & wild und so verknorzt wie die Wurzel des Haidekrauts. Unnatürlich wärs, wenns anders wäre -ist doch die Autorin selber ein Kind der Moore." Charlottes Versuche, Emilys verstörende Literatur, die sich auch sprachlich radikal mit dem befasst, was die Zivilisation nicht in den Griff bekommt, mit der rauen Landschaft der Umgebung zu erklären, wird die Rezeption des Werkes und das Bild der Autorin lange prägen.

Die Autorin war ihrer Zeit weit voraus, erst Jahrzehnte später begannen Leserinnen und Leser die Bedeutung zu ahnen. Emily Brontë, diese gewaltige Stimme aus England, wurde gerade einmal 30 Jahre alt. Sie konnte gerade noch die Publikation ihres Romans erleben und starb, ohne ihr Pseudonym zu lüften.

"Nicht feige ist meine Seele" Zum 200. Geburtstag von Emily Brontë Gedanken für den Tag von Brigitte Schwens-Harrant 30.7.-4.8., jeweils 6.56 Uhr, Ö1 -oe1.orf.at

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