Mythos als zeitgemäße Herausforderung

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Zweimal Atriden, von der antiken Perspektive in die nicht minder brutale Gegenwart transferiert: Beide "Iphigenie"-Opern von Christoph Willibald Gluck an einem Abend im Theater an der Wien sowie Manfred Trojahns zeitgenössischer "Orest" im Museumsquartier Wien.

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Zweimal Atriden, von der antiken Perspektive in die nicht minder brutale Gegenwart transferiert: Beide "Iphigenie"-Opern von Christoph Willibald Gluck an einem Abend im Theater an der Wien sowie Manfred Trojahns zeitgenössischer "Orest" im Museumsquartier Wien.

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Warum nicht auch bei Christoph W. Gluck versuchen, was sich bei Richard Wagners "Ring des Nibelungen" (wenn auch in Loriots Persiflage) bestens bewährt hat? Nämlich mehrere thematisch assoziierte Stücke zu einem einzigen zu vereinen. Torsten Fischer, der für unkonventionelle Lesarten bekannte deutsche Regisseur, wagte es im Theater an der Wien - und gewann. Fischer hatte Glucks Iphigenie-Opern "Iphigénie en Aulide" und "Iphigénie en Tauride" in diesem Ambiente bereits inszeniert. Jetzt reizte es ihn, daraus ein abendfüllendes Stück zu machen.

Traumartiges Geschehen

Fischer führte Teile der beiden, beginnend mit "Iphigénie en Aulide", zusammen, um herauszuarbeiten, was ihm bei diesem Mythos wichtig scheint: Dass sich Geschichte, egal vor welchem Hintergrund, immer wieder wiederholt. Dass Liebe und Eifersucht ebenso häufig miteinander konkurrieren wie Brutalität und Humanität. Dass Freundschaften oft bis an ihre Grenzen belastet werden. Dass der Einzelne Teil von Systemen ist, die ihn nicht selten als Gefangenen halten. Dementsprechend ist Fischer nicht so sehr die Nacherzählung der an Blutvergießen reichen Geschichte der Atriden wichtig.

Sein Interesse zielt vor allem auf das auch von Gesinnungswandel bestimmte Agieren der einzelnen Protagonisten. Sie präsentieren in dieser zuweilen traumartig ablaufenden Iphigenie-Kurzversion stets packend ihre Schicksale in einem an die Unentrinnbarkeit eines Gefängnisses erinnernden, bühnenhohen klinisch-weißen Bühnenraum (V. Triantafillopoulos). Wobei die auf die Wände geworfene rote Farbe die Brutalität dieses Geschehens noch unterstreicht. Dies alles geschieht in bewusstem Einklang mit Glucks Musik. Auch wenn sich die Idee, aus der Jupiter-Arie der Clytemnestre aus "Iphigénie en Aulide" direkt in die Ouvertüre von "Iphigénie en Tauride" zu führen, auf dem Papier stimmiger ausnahm als ihre Umsetzung.

Heutige Kleidung (H. Schäfer) und wiederholter Pistoleneinsatz tun ein weiteres, um das Geschehen aus dem antiken Blickwinkel in die Perspektive der Gegenwart zu transferieren. Schließlich haben kriegerische Auseinandersetzungen und die Opferung Unschuldiger nichts an Aktualität eingebüßt.

Musikalisch wurde der vom tragischen Beziehungsdrama zum historischen Lehrstück geweitete Abend von einer exzellenten Véronique Gens in der Doppelrolle Diane/Iphigénie dominiert. Sie agierte auch szenisch ungleich überzeugender als ihr Pendant vor der Pause, Lenneke Ruiten. Michelle Breedt (Clytemnestra) führte die übrige, homogen aufeinander abgestimmte Besetzung an. Gewohnt hochkarätig der Arnold Schoenberg Chor. Gut auf ihre Aufgabe vorbereitet zeigten sich auch die Wiener Symphoniker unter Leitung des sie impulsiv und mit viel Erfolg in Richtung historische Aufführungspraxis führenden Leo Hussain.

Wohin geht Orest?

Die Faszination der Atriden-Thematik ist ungebrochen. Wie Manfred Trojahns für die Niederlandse Oper Amsterdam geschriebener und dort im Dezember 2011 uraufgeführter "Orest" zeigt, wofür er auch das Libretto verfasst hat. Keine Oper im klassischen Sinn, sondern ein aus sechs Szenen bestehendes, bewusst auf die spezifische Atmosphäre des Sujets konzentriertes Musiktheater, das mit oft flimmerartig aufwartender Melodik die spezifische Dramatik dieser Szenerie einfängt.

Selbst in den ruhigeren Passagen dieser für Kammerensemble (gut studiert das von W. Kobéra gewohnt souverän geführte amadeus ensemble-wien), Männerstimmen und aus dem Hintergrund übertragenen Frauenstimmen (Wiener Kammerchor, Einstudierung M. Grohotolsky) konzipierten Partitur wird das Beklemmende der Situationen deutlich. Die Antwort auf Trojahns in diesem Kontext gestellte Frage, ob der zum Doppelmörder gewordene Orest (markant K. Sander) seinen Weg gefunden hat, lässt freilich nicht nur er offen, sondern auch die das Geschehen in einen abgehalfterten Bahnhof verlegende Inszenierung (P.M. Krenn).

Sie führt damit den Stoff bewusst in ein Gegenwartsmilieu, lässt die Idee einer antiken Götterwelt erst gar nicht aufkommen und richtet den Fokus auf die Schwierigkeit des alltäglichen Umgangs mit Themen wie Hass, Verachtung oder Ausgestoßensein. Verstärkt wird dies noch durch die plastische Zeichnung der divergierenden Frauengestalten Elektra (J. McCleland), Helena (ausdrucksvoll J. Davison) und Hermione (A. Francis) sowie der als Figur mit Sprechpuppe darstellten Doppelgestalt Apollon/Dionysos (markant G. Heinrich) als nachdenklich stimmende Metapher für Zynismus und Verführung.

Orest

MQ, Neue Oper Wien: 30.10., 1./3./4.11.

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