Na starowje in Tschernobyl

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Schutzanzüge, Safe-Food aus nicht verseuchtem Boden um 15 Dollar: Reisebüros locken mit Fahrten an den Ort der bisher größten Atomkatastrophe.

Damit hätte wohl keiner gerechnet, als vor 16 Jahren, am 26. April 1986, im ukrainischen Tschernobyl die bisher schrecklichste Atomkatastrophe passierte. Je weiter weg von der atomaren Verseuchung, umso glücklicher schätzte man sich damals. Neun Millionen Bürger der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden in irgendeiner Weise von der Verstrahlung in Mitleidenschaft gezogen. Wer weg konnte, ging, aus der innersten Verseuchungszone wurden an die 150.000 Menschen umgesiedelt. Nur einige wenige ältere Menschen ließen sich nicht mehr entwurzeln, bis heute leben sie in der Umgebung des traurigen Symbols des unsichtbaren Todes. Aber auch sie hätten wohl nicht damit gerechnet, dass Menschen so weit kommen, dass sie atomare Strahlung zur Selbstempfindung brauchen. Einen Röntgenkick, gewissermaßen.

"Gerne informieren wir Sie über das Tourenprogramm nach Tschernobyl! Das Angebot umfasst Spezialkleidung und Fahrt in die Zone. Bekanntschaft mit dem Geisterstädtchen Pripjat, Besichtigung verlassener Schulen und Kindergärten, Zusammentreffen mit den alten Bewohnern der Verbotszone": So wirbt eines der Reisebüros für sein extravagantes Programm. Das ganze letzte Jahrzehnt über haben um die 8.000 Menschen die Verbotszone besucht, derzeit ist das Angebot besonders groß. Neben den Individualreisen bieten ukrainische Agenturen auch organisierte Touren nach Tschernobyl an. Für 200 US-Dollar ist man dabei, für weitere zehn schläft man in einem der vier örtlichen Hotels, die für die Aufräumungsmannschaften gebaut wurden. Lächerliche 300 Dollar kostet der Hubschrauberrundflug über den Atomreaktoren. Von besonderer Pikanterie ist die einmalige Gelegenheit, mit der nahe um Tschernobyl lebenden Bevölkerung Bekanntschaft zu schließen und gegebenenfalls mit einem Selbstgebrannten auf deren Gesundheit anzustoßen.

Die Verstrahlung in den nächstgelegenen Dörfern übersteigt die zulässige Norm mindestens um das Vierfache und beträgt 40 Mikroröntgen in der Stunde. Besonders gefährlich sind natürlich die viel stärker verstrahlten örtlichen Lebensmittel.

Die Anwohner würden wohl niemandem den Besuch empfehlen, obwohl gerade sie der Radiation oft sehr gelassen gegenüberstehen. Es war auch nicht die Bevölkerung, die auf die Idee des Katastrophentourismus kam. Geschäftsleute zogen diese Art der Erholung mit Genehmigung des ukrainischen Katastrophenministeriums auf. Und eine Abteilung des Ministeriums verdient laut Wochenzeitung Obschaja Gazeta selbst als Agentur daran.

Laut Auskunft von Reisebüros steigt in den GUS-Staaten der Aktiv- und Extremtourismus an. "Die neue Form der Stressbewältigung lässt den Urlaub am Strand alt aussehen", wird von der Homepage des russischen Klubs für Extremurlaub verkündet. Eine Trip nach Tschernobyl bietet er nicht an, weil er die Gesundheit eher fördern als beschädigen will; aber sonst alle möglichen Formen, die freie Zeit mit nervenkitzelnder Aktivität zu füllen: Sportarten wie Höhlenklettern, Rafting im Altaigebirge oder Paragleiten gehören zum weniger Spektakulären. Das eigenständige Lenken eines russischen MIG-Flugzeuges verlangt da schon härtere Burschen - und finanzkräftigere: bis zu 9.000 US-Dollar ein Flug, dafür bis in die Stratosphäre.

Als besonderen Saisonhit neben der Tschernobyl-Tour bieten Tourismusagenturen Reisen zum Nordpol an - ob als Skitour, mit dem Hubschrauber oder gar als Hochzeitsreise. Bis zu 11.000 Dollar kostet der einwöchige Kick zum jungen Glück.

Extremtourismus ist "in". Gefragt sind die Messwerte außerhalb des grünen Bereichs - ob zum Stressabbau oder nur zur schnellen Demonstration eines kleinen Heldenmutes. Denn auf maximale Sicherheit und den gewohnten Komfort in den toten Winkeln der Erde will auch der extremtouristische Abenteurer nicht verzichten. Den Mimöschen, denen es am Nordpol zu wenig heimelig ist, stehen laut Prospekt Heizungsgeräte, Waschbecken, ja sogar Saunas und Restaurants zur Verfügung. Und vorgesorgt ist auch für die Feiglinge, die bei den mächtig verstrahlten einheimischen Pilzgerichten aus echter Tschernobylerde an Schilddrüsenkrebs denken: Safe-food aus sauberem Boden wird dem Besucher im Schutzanzug für 15 Dollar pro Tag serviert.

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