Nachlass zu Lebzeiten

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Vorlass entsteht nicht nur beim Schnapsbrennen. Bibliotheken sammeln Manuskripte und Materialien von Schriftstellern.

Bey dem Keltern des Weines, auch bey dem Destilieren des Branntweins, wird dasjenige, was zuerst ausläuft oder übergeht, der Vorlaß genannt", heißt es im gewichtigen Grammatisch-kritischen Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung, erschienen in Wien 1808. Und in der Tat war der Ausdruck bisher nur im Bereich der Erzeugung von edlen geistigen Getränken in Gebrauch. Dies hat sich seit etwa zehn Jahren geändert. Der "Vorlass" hat im Bibliotheks- und Literaturarchivwesen ein weiteres semantisches Feld besetzt.

Mayröcker-Vorlass

Die Sammlung von literarischen Nachlässen - Manuskripte, Briefe, Dokumente, Lebenszeugnisse eines Künstlers - und deren Aufarbeitung nach dem Tode gehört seit jeher zu den Hauptaufgaben von Handschriftensammlungen und Literaturarchiven. Allerdings sind die Zeiten, in denen solche Nachlässe in großzügiger Weise umsonst übergeben wurden, nur in der Absicht, das Andenken des Verstorbenen in Ehren und Würden zu halten, schon lange vorbei. Eine solche Großmut legte etwa Katharina Fröhlich, Grillparzers ewige Braut, als sie im Mai 1878 den Gesamtnachlass des mürrischen Dichters der Stadt Wien übergab und damit den Grundstein für die Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek setzte, an der bis zum heutigen Tag zielstrebig Nachlässe und Einzelautografen bedeutender österreichischer Künstler und Wissenschaftler gesammelt werden.

So war es für die Bibliothek umso erfreulicher, als sich Friederike Mayröcker, grand dame der österreichischen Literatur, 1988 entschloss, ihren Vorlass, d. h. die Materialansammlung zu ihrem gesamten literarischen Werk, der Stadt Wien als Geschenk zu übergeben und im Rahmen eines zu errichtenden Friederike Mayröcker - Archivs der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen. Der Anfang der Integrierung von Vorlässen in Sammlungen war damit gelegt, noch vor der Errichtung des Österreichischen Literaturarchives, das, theoretisch seit 1989, praktisch seit 1995 starke Akzente auf dem Gebiet der Vorlasssammlung gesetzt hat. In mehreren Transportaktionen wurden nach Abschluss des Schenkungsvertrages dann die Manuskripte, Entwürfe und Notizen zum Werk, jeder noch so kleine Zettel, auf dem zumindest ein Wort stand, aus der Wohnung der Künstlerin ins Depot der Handschriftensammlung im Rathaus gebracht. Weitere solche Vorlasstransporte werden folgen, denn Friederike Mayröcker führte und führt weiterhin ein exzessives Schriftstellerleben, sie schreibt und publiziert am laufenden Band, wobei die Zunahme des Materials mit einer im selben Maß zunehmenden Unzugänglichkeit ihrer Wohnstätte einhergeht.

Die Übernahme des Archivs leitete zugleich eine intensive Überlegungsphase ein, wie mit solchem Material überhaupt - bearbeitungsmäßig und im wissenschaftlichem Gebrauch - zu verfahren sei. Denn es stellte sich rasch heraus, dass mit den herkömmlichen, von Archiv zu Archiv differenzierten Ordnungs- und Erhaltungskriterien kein Auslangen zu finden war. Neue Regelwerke und Katalogisierungsvorschriften waren zu finden und auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Eine Fülle von Fragen und Problemen tat sich so auf, nach der Entscheidung, in Hinkunft neben Nachlässen und Einzelstücken auch Vorlässe zu erwerben.

Die Herkunft des unschönen, wenn auch semantisch richtigen Ausdrucks ist ungeklärt, er stammt wohl von einem literaturwissenschaftlich ausgebildeten Bibliothekar. Viel wichtiger sind die Veränderungen im ankaufspolitischen Wechselspiel zwischen Institutionen und Anbietern. Vorlasserwerbung braucht zunächst ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis zwischen Institution und Autor. Das Archiv oder die Bibliothek will die Bestände gemäß dem Sammlungsauftrag erweitern und damit mehr Attraktivität gewinnen, vor allem im Bezug auf Lehre, Forschung und Publikationstätigkeit. Der Autor, die Autorin will die Früchte der literarischen Tätigkeit gesichert wissen, um sie vor möglichen unbefugten Eingriffen oder gar vor der Zersplitterung durch habgierige Erben geschützt zu wissen.

Zersplitterung verhindern

Der Handschriftenarchivar, durch jahrelange Erfahrung auf diesem Gebiet geschult, erkennt natürlich, wann eine solche Zerstreuung stattfindet. Er kann allerdings nur davor warnen, verhindern kann er sie nicht. Um so mehr wird es sein Bestreben sein, gute Kontakte mit den zeitgenössischen Literaten zu pflegen und ihnen die Übergabe ihrer Materialien an geeignete Archive und Sammlungen, zu fairen Bedingungen natürlich, anzuraten.

Zunehmend erkennen auch die Schriftsteller selbst den Wert ihrer Archive, sehen in den angesammelten Materialien einen Teil ihrer Lebensarbeit, für die sie auch einen entsprechenden materiellen Gewinn lukrieren wollen. In diesem Sinn einer aktiven Vorlasserwerbung erfolgten auch die Ankäufe der Vorlässe von Helmut Eisendle, Marie Thérèse Kerschbaumer, Liesl Ujvary und zuletzt von Wolfgang Bauer für die Wiener Stadt- und Landesbibliothek, die zum Teil auch schon aufgearbeitet sind und dem Publikum zur Verfügung stehen. In ihnen findet sich Material zu so bedeutenden Werken wie der Barbarina-Trilogie von Kerschbaumer oder dem Walder-Roman von Eisendle. Für den Herbst wird eine Austellung zu Helmut Eisendle vor allem mit dem Vorlassmaterial gestaltet. Man kann aber auch die Erstfassung von Wolfgang Bauers Kultstück "Magic Afternoon" nachlesen oder die Entwürfe zu den Fotoromanen Liesl Ujvarys bewundern. Einen wichtigen Teilvorlass stellen auch die zahlreichen Entwürfe Wolf Wondratscheks zum Roman "Mozarts Friseur" dar, der zum Großteil in Wien spielt, wo Wondratschek ja seit einiger Zeit wohnt.

Wenig Freude mit dem Vorlassver- bzw. ankauf zwischen Autor und Archiv haben naturgemäß die gewerbsmäßigen Antiquare und Autografenhändler, die darin nur einen, von den Literaturarchiven provozierten, künstlichen Markt sehen, von dem sie weitgehend ausgeschlossen sind. Andrerseits werden sich die Autoren zunehmend des Wertes ihrer Materialien über den geistigen Anspruch hinaus, bewusst. Das kann natürlich auch zu einer gezielten, dem Markt angepassten Produktion auf Vorrat führen. Der Marktwert für die Archive lebender Schriftsteller ist sicher nur unter Einbeziehung von Unwägbarkeiten, wie der Entwicklung literarischer Strömungen sowie Veränderungen im geistesgeschichtlichen Raum, unscharf also zu argumentieren. Die Bedeutung eines Vorlasses stellt sich in vielen Fällen oft erst dann heraus, wenn er bereits zum Nachlass geworden ist.

Der Autor ist Leiter der Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.

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