Nationale Identität - ein Mythos?

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Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Nationalcharaktere gelten in unseren Breiten als verhängnisvolle Illusionen, die "dekonstruiert" werden müssen.

Man stelle sich einmal vor, es könnte empirisch bewiesen werden, dass die feine französische Lebensart eine Projektion, die Vorstellung vom distinguierten Engländer und der temperamentvollen Italienerin ein Bild der Phantasie wären und dass das Geheimnis der russischen Seele nicht enträtselt werden kann, weil es sie gar nicht gibt. Viel Papier wäre überflüssigerweise beschrieben worden und viele Überlegungen umsonst angestellt, nicht nur die jahrhundertealte Produktion von Vorurteilen gegenüber anderen ethnisch oder sozial definierten Gruppen, sondern auch die zahlreichen kritischen Versuche, den eigenen Nationalcharakter zu ergründen. Hofmannsthals Essay vom Preußen und dem Österreicher entbehrte ebenso jeder Grundlage wie Hölderlins Blick auf die Deutschen.

Auch die Literatur, die ihre Anschaulichkeit von Klischees bezogen hat, geriete zum Kuriosum vergangener Zeiten. Der Zauberberg hätte nicht geschrieben werden dürfen, er lebt von der Begegnung Angehöriger verschiedener Nationalitäten, denn die Buntheit der Charaktere und ihres Verhaltens wird auch durch ihre unterschiedliche Herkunft bestimmt. Und Nikolaj Gogol, der russische Meister der Groteske, hätte mit der satirischen Vorführung des deutschen Typus allzu weit an der Wirklichkeit vorbei gezielt. Zwar mag sich Goethe geirrt haben, als er "die Sicherheit, die Tätigkeit, den Eigensinn und die Wohllebigkeit der Engländer" als unerreichbares Vorbild für andere Nationen rühmte. Und über so manche Sentenz arrivierter Geistesgrößen stolpert man heute zurecht: zum Beispiel über Nietzsches Aphorismus aus der Götzendämmerung: "'Böse Menschen haben keine Lieder.' - Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben?"

Seit Menschengedenken hat man sich also darum bemüht, das Fremde fassbar und beschreibbar zu machen, und dass die Urteile darüber häufig recht unfreundlich ausgefallen sind, dass es oft genug mit der Abwertung der anderen zugunsten des Eigenen einhergegangen ist, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, als die Hellenen ihr kollektives Wir-Gefühl stärkten, indem sie sich von den Barbaren abgrenzten. Auch ein Ölgemälde aus dem frühen 18. Jahrhundert, das im Wiener Volkskundemuseum hängt, führt die stereotypen Vorurteile seiner Zeit drastisch vor Augen (siehe Abbildung): Es stammt aus der Steiermark und trägt den Titel "Kurze Beschreibung der In Europa Befintlichen Völckern Und Ihren Aigenschaften". Diese Völkertafel zeigt die Vertreter von zehn europäischen Nationen und die stereotypen Vorurteile ihrer Zeit, sie dokumentiert aber vor allem auch die Rangordnung unter den Nationen, die auch damals schon ein deutliches West-Ost-Gefälle ausdrückt. Die Eigenschaften, die den Bewohnern Osteuropas, den Polen, Ungarn, Russen und Türken beziehungsweise Griechen zugeschrieben werden, sind deutlich weniger sympathisch als jene für die Westeuropäer.

Während man sich noch vor hundert Jahren darum bemühte, wissenschaftliche Kriterien zu finden, um nationale Differenzen hierarchisch festzulegen, geht es im zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Diskurs um das Gegenteil, um die Dekonstruktion der nationalen Klischees, darum, diese auf der Müllhalde der Geschichte zu entsorgen. Auf der globalen Spielwiese der wechselnden Identitäten soll eine Tabula rasa geschaffen werden, die Vorstellung von den nationalen Identitäten ins Reich der mythischen Vorgeschichte verweist.

Ein Symposium der Wiener Kunst- und Theorieinstitution Depot zum Thema "Kulturnationen. Klischees zur Konstruktion nationaler Identitäten" zeigte die Schwierigkeit dieses Ansatzes. Vertreter von Nationen aus aller Welt waren eingeladen, sich dem Thema anzunähern, und sie taten es entsprechend der unterschiedlichen Erfahrungen mit ihrer nationalen Identitätsbildung. Länder wie Österreich, Deutschland, die Schweiz oder Italien, die durch die traumatische Erfahrung des Faschismus einen Bruch in ihrem nationalen Selbstverständnis erfahren haben, möchten den Wunsch nach nationaler Identität gerne als abstraktes Konstrukt der Ideengeschichte begreifen und die anmaßende Selbstdefinition als "Kulturnation" als dünkelhafte Abwertung der anderen durchschauen, von französischer Seite erlebt man hingegen den ungebrochenen Stolz auf die Errungenschaften der Französischen Revolution und die Genese der Demokratie. Den osteuropäischen Nationen wiederum wird die Suche nach nationaler Identität in Form warmer patriotischer Gefühle als eine Art Nachholbedürfnis verspäteter Nationen generös zugestanden. Das Beispiel Nigeria wiederum zeigt stellvertretend für viele andere die Schwierigkeit einer Identitätsfindung nach dem Zeitalter der Kolonialisierung, da die Gemeinsamkeit der zu Nationen zusammengezwungenen Volksgruppen auf die Schicksalsgemeinschaft der Unterdrückung durch die europäische Kolonisation reduziert bleibt.

Es gibt Länder, so das Resultat der Veranstaltung, deren Bemühen um die Zugehörigkeit zum illustren Zirkel der Kulturnationen nachvollziehbar und daher nachsehbar ist. In jenen Regionen aber, wo der Begriff seine Wurzeln hat, nämlich in der deutschen Aufklärung, als Schiller das Konzept der deutschen Kulturnation dem modernen politischen Nationsbegriff der Franzosen gegenüberstellte, ist die Kulturnation inzwischen eine fragwürdige Angelegenheit geworden. Zwar beruft man sich in Österreich im Notfall darauf, etwa in der Deklaration österreichischer Intellektueller zum Boykott-Aufruf gegen Blauschwarz, grundsätzlich misstraut man dem Begriff aber, insbesondere wenn ihn Politiker in jeder beliebigen Festrede zur Präsentation österreichischer Kulturveranstaltungen inflationär beschwören.

Mit der Entstehung des modernen Nationsbegriffs erhielt der Umgang mit Vorurteilen gegen andere Völker, die schon bei antiken Historikern nachzulesen sind, eine neue Dynamik. Im Laufe des 19. Jahrhundert wurde in die Klassifikation nach Nationalitäten eine Systematik gebracht, die den Begriff der Nation ethnisch und sprachlich neu begründete. Nicht nur die politische Landkarte begann sich nach dem Nationalitätenprinzip zu verändern - und beschäftigte dabei die führenden Köpfe der internationalen sozialistischen Bewegung mit der "nationalen Frage" - sondern auch der "nationalen Identität" wurde ein neuer Stempel aufprägt, um sie dann in der Rassentheorie zu pervertieren.

Seither hat sich Grillparzers Prophetie erfüllt und die europäische Geschichte ist von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität geschritten. Die Selbstverständlichkeit, mit der man noch vor einem Jahrhundert sowohl über die eigene als auch über die fremde Nationalität sinnierte, ist der Unsicherheit gewichen, ob es zulässig ist, in diesen Kategorien überhaupt zu denken. Nach der Erfahrung des Faschismus ist eine positive Identifikation mit der eigenen Identität überaus kompliziert geworden, besser, so scheint es, man sucht erst gar nicht danach.

In seinem Buch "Europa ohne Identität?" diagnostiziert Bassam Tibi eine Krise der multikulturellen Gesellschaft, die parallel zur europäischen Identitätskrise verlaufe. Die zentrale Frage laute, ob "die Alternative zum arroganten, missionarischen, herrschsüchtigen Europa ein sich verleugnendes Europa" sei, "das kniefällig in Demut um Vergebung für seine Vergangenheit bittet". Tibi spricht zwar von Europa, der in Deutschland lebende Islamforscher hat aber die Identitätskrise der deutschen Gesellschaft nach der Erfahrung durch den Nationalsozialismus vor Augen. Deutscher zu sein, ist seither ganz besonders schwierig geworden. Der Rückgriff auf die positiven Identifikationsmerkmale ist verbraucht, und gegen die kollektiven Negativzuschreibungen aufgrund der verbrecherischen Geschichte kann man sich nicht wehren. Da ist es schon besser, ohne nationale Identität auszukommen.

Man tut sich aber auch an anderen Orten Europas schwer mit der Zugehörigkeit zu einer nationalen Identität. Dass der Versuch, eine europäische Identität zu schaffen, die weltoffen und interkulturell und beliebig ist, die sich anstatt auf die Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur auf die sogenannten "europäischen Werte" wie etwa den Verfassungspatriotismus gründet, eine Illusion ist, weil ihr die Sinnlichkeit fehlt, zeigen die Wahlergebnisse. Es scheint so zu sein: Wo man die nationalen Gefühle zum Anachronismus erklärt, schleichen sie sich durch die Hintertür wieder herein.

"Alle Nationen sind Erfindungen, aber Erfindungen, wenn sie einmal erfunden sind, werden bekanntlich zu etwas durchaus Realen", schreibt der Essayist Karl-Markus Gauß in seinem Band "Ins unentdeckte Österreich". Er plädiert dafür, diese Realität nicht zu leugnen, sondern sich aktiv mit ihr auseinander zu setzen, ihre Herkunft zu erforschen, um sie als Chance zu begreifen.

Die österreichische Identität ist untrennbar mit der Vergangenheit der Donaumonarchie verbunden, deren Wesen durch die Integrationsleistung nationaler Vielfalt bestimmt war. Im Nationalsozialismus wurde diese Vergangenheit verschüttet, da sie gegen die Prinzipien der völkischen Reinheit verstieß. Nach 1945 konstruierte man zwar eine österreichische Identität, die es in dem Maß erst zu erschaffen galt, als alles, was an die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum, dem Österreich durch Sprache und Geschichte verbunden war, historisch belastet erschien. Gleichzeitig blieb das Verhältnis zur k u. k.-Vergangenheit jedoch überaus kompliziert. Zwar entdeckte man den Verkaufswert ihrer Symbole als Werbetrommel, aber Sissi-Mythos und Lippizaner waren nicht zur Identifikation für weltoffene Österreicher geeignet.

Dabei übersieht man, dass selbst die ungeliebten Österreich-Klischees die Integrationsleistung des Fremden verkörpern: das Wiener Schnitzel stammt aus Mailand, die Lipizzaner aus dem heutigen Slowenien und Sissi aus Bayern. Die entscheidende Rolle, die das Fremde in der Synthese der österreichischen Kultur spielte, ist nicht wirklich ins kollektiven Bewusstsein gedrungen. Anstatt diese Vergangenheit zurückzugewinnen, verweilt man in austriakischem Selbsthass und Selbstzerfleischung. Selbst der österreichische Fremdenhass hat, so Gauß, seine Wurzeln in der verleugneten nationalen Identität: Weil sich der Österreicher in dem Fremden, den er nicht mag, selbst findet, weil die Kroaten oder die Slowenen inmitten der Gedächtnislosigkeit die Erinnerung verkörpern.

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