Nationalismus statt Sozialismus

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Überraschend brach in den Jahren 1988 bis 1991 die Sowjetunion zusammen, und noch überraschender erstanden aus ihren Trümmern 15 neue Staaten, deren Grenzen identisch sind mit denen der 15 Teilrepubliken der Union. Parallel dazu zerfielen auch Jugoslawien und etwas später die Tschechoslowakei in ihre föderalen Bestandteile. Zur selben Zeit, als sich der Westen Europas aufmachte, die Nationalstaaten in einem vereinigten Europa zu überwinden, lösten sich also die multinationalen sozialistischen Staaten Osteuropas in Nationalstaaten auf. Diese Gegenläufigkeit der Entwicklung macht es uns Westeuropäern schwer, Verständnis für ethnische Bewegungen und nationalen Separatismus im Osten Europas aufzubringen.

Bis zum Ende der achtziger Jahre überwog inner- und außerhalb der Sowjetunion die Meinung, dass die Nationalitätenfrage gelöst sei und die über 100 ethnischen Gruppen des Landes im Begriff seien, zu einem stark russisch geprägten Sowjetvolk zu verschmelzen. Die sowjetischen Kommunisten bis hin zu Michail Gorbatschow waren überzeugt, dass mit der Errichtung des Sozialismus die Grundlage für nationale Antagonismen verschwunden und das Zeitalter der internationalistischen Völkerfreundschaft angebrochen sei. Andererseits hatte sich in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion das in den zwanziger Jahren verkündete Konzept "national in der Form, sozialistisch im Inhalt" verändert: Der sozialistische Inhalt verlor an Attraktivität, und die nationale Form füllte das entstehende ideologische Vakuum inhaltlich. Dazu trug schon der von Stalin geförderte Sowjetpatriotismus bei, der im Zweiten Weltkrieg mit russisch-nationalen Ideen angereichert wurde, und als zweite Integrationsideologie neben den Marxismus-Leninismus trat.

Zum anderen führten Industrialisierung, Urbanisierung und der Ausbau des Bildungswesens zur Formierung neuer nationaler Eliten. Einerseits förderte die Modernisierung die von der sowjetischen Politik unterstützten Tendenzen der Russifizierung und der "Verschmelzung" der Nationen zu einem "Sowjetvolk". Andererseits hatte die Modernisierung eine nationale Mobilisierung zur Folge. Seit den sechziger Jahren zeigten sich in den meisten Republiken nationalkommunistische Strömungen. Außerdem organisierten Aktivisten einzelner Völker nationale Bewegungen, die meist auf kleine Gruppen von Intellektuellen beschränkt blieben und nur bei den Krimtataren und Litauern Massencharakter annahmen.

Den Anstoß für den Zerfall des sowjetischen Vielvölkerreiches gaben nicht die nationalen Bewegungen, sondern das Machtzentrum. Erst die Reformen Gorbatschows, der Kollaps der Kommunistischen Partei und die Schwächung der Zentralmacht lösten am Ende der achtziger Jahre die nationale Explosion aus, die dann wesentlich zum Zusammenbruch des sowjetischen Staates beitrug. Den Anfang machten 1988 die Armenier, die in Massendemonstrationen die Angliederung der zur Republik Aserbaidschan gehörenden, mehrheitlich armenischen Enklave Berg-Karabach an Armenien forderten. Im Laufe desselben Jahres entfalteten die Litauer, Letten und Esten politische Emanzipationsbewegungen, die die Wiederherstellung der selbstständigen Staaten anstrebten. Estland erklärte als erste Sowjetrepublik im Herbst 1988 seine Souveränität, und Litauen als erste im März 1990 die Unabhängigkeit. Bis Ende 1990 hatten alle Sowjetrepubliken und eine ganze Reihe von autonomen Republiken Souveränitätserklärungen verabschiedet, die eine weitgehende politische und wirtschaftliche Autonomie forderten.

Von entscheidender Bedeutung war, dass sich im Juni 1990 auch die Russländische (!) Republik unter Führung von Boris Jelzin vom sowjetischen Zentrum löste. Gorbatschow war von den nationalen Emanzipationsbewegungen überrascht worden und reagierte spät und widersprüchlich. Die geschwächte Sowjetmacht versuchte die staatliche Einheit durch Repressionen (so in Tiflis und Vilnius) und dann durch Konzessionen in Form eines neuen Unionsvertrags zu retten. Der Umsturzversuch reaktionärer Kräfte machte indessen im August 1991 alle Bemühungen zunichte. Fast alle Unionsrepubliken erklärten nun ihre Unabhängigkeit. Nachdem eine Volksabstimmung in der Ukraine eine große Mehrheit für die Unabhängigkeit dieser nach Russland wichtigsten Sowjetrepublik ergeben hatte, war das Schicksal der Sowjetunion besiegelt. Unter Führung der Präsidenten Russlands, der Ukraine und Weißrusslands ersetzten die Unionsrepubliken die Sowjetunion im Dezember 1991 durch die lose "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS).

Doch nicht die GUS, sondern die 15 ehemaligen Sowjetrepubliken konsolidierten sich als von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannte souveräne Nationalstaaten. Allerdings waren die Schwierigkeiten der Staats- und Nationsbildung groß: Neue staatliche Institutionen mussten geschaffen und mit Leben gefüllt werden. Nationale Ideologien wurden konstruiert, wobei der nationalen Geschichte zentrale Bedeutung zukommt. Viele Vertreter der kommunistischen Eliten mutierten zu Nationalisten, ein Elitenwechsel fand nicht statt. Große Probleme bereitete die wirtschaftliche Entflechtung der seit Jahrzehnten in Arbeitsteilung verbundenen Republiken.

Die Voraussetzungen für den Start in die Unabhängigkeit waren in den einzelnen Staaten unterschiedlich. Am besten vorbereitet für die Unabhängigkeit waren die drei baltischen Staaten. Die Esten, Letten und Litauer konnten auf nationale Massenbewegungen, auf die Unabhängigkeit in der Zwischenkriegszeit und eine alte mitteleuropäische historische Tradition rekurrieren und waren wirtschaftlich am weitesten entwickelt. Das Problem der großen russischen Minderheiten in Lettland und Estland, die von Moskau unterstützt wurden, konnte entschärft werden. Die Republik Moldau, die ebenfalls erst im Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gekommen war, konsolidierte sich nach einem Bürgerkrieg in Transnistrien als eigenständiger Staat zwischen Rumänien und der Ukraine.

Starke nationale Bewegungen, die sich auf alte staatliche und kulturelle Traditionen stützten, hatten in Georgien und Armenien den Weg in die Unabhängigkeit vorbereitet. Im Kaukasusgebiet waren jedoch die interethnischen Spannungen so stark, dass Bürgerkriege wie die um Berg-Karabach und Abchasien die Konsolidierung der Nationalstaaten bis heute behindern. Bei den fünf von der sowjetischen Politik geschaffenen Nationen Zentralasiens waren vor 1991 kaum nationale Bewegungen bemerkbar, doch hatten sie eine stabile Identität, die auf dem Islam und eigenständigen historischen Traditionen basierte. Diese haben die Tendenz zu autoritären Systemen mit starken Präsidenten unterstützt, die sich in allen fünf Staaten etablierten.

In Kasachstan und Kyrgysstan stellen die großen Minderheiten von Russen und anderen Europäern ein Konfliktpotential dar. Nur in Tadschikistan kam es indessen zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen regionalen Interessengruppen. Die teilweise russifizierten Ukrainer und Weißrussen waren national viel schwächer konsolidiert und hatten sich gegen die vereinnahmenden Ansprüche Russlands zu behaupten. Während sich in Belarus die Tendenzen einer Annäherung an Russland verstärkt haben, bleibt die Ukraine trotz großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten und trotz innerer Spannungen auf Unabhängigkeitskurs. Die über 20 Prozent der Bevölkerung umfassende russische Minderheit und die Kontroversen um die Zugehörigkeit der Krim und der Schwarzmeerflotte belasten indessen das Verhältnis zu Russland.

Auch die Russländische Föderation, die den Anspruch auf die Rechtsnachfolge der Sowjetunion erhebt, ist ein junger Nationalstaat. Die Russen sehen sich einerseits als ethnische Nation, gleichzeitig wird als Staatsvolk eine neue russländische Nation konstruiert, die auch die 18,5 Prozent der Bevölkerung umfassenden Minderheiten umfassen soll. Außerdem bleibt die Erinnerung an die imperiale sowjetische Nation, deren Hauptträger die Russen waren, lebendig. In einem Föderationsvertrag gelang es Moskau, die meisten Teilrepubliken der RSFSR durch Konzessionen in den neuen Staat zu integrieren. Einzig Tschetschenien strebt nach Unabhängigkeit, was Russland mit Waffengewalt zu verhindern sucht. Die postsowjetische Welt befindet sich noch immer in der Phase der Konsolidierung der Staaten und Nationen.

Erbe lastet schwer Die Konstruktion der Nationen folgt teils dem Konzept der ethnischen Nation (Baltikum, Transkaukasien), teils stärker dem der politischen Nation (Russland, Kasachstan). Es mangelt nicht an Problemen: Zu den interethnischen und zwischenstaatlichen Konflikten kommen die Schwierigkeiten der wirtschaftlichen Transformation, der Errichtung eines Rechtsstaates und einer funktionierenden politischen und administrativen Ordnung. Das sowjetische Erbe lastet schwer. Mit Ausnahme der baltischen Staaten, die auf dem Weg in die Europäische Union sind, sind die Zukunftsperspektiven unsicher.

Das Bild, das in unseren Medien von den postsowjetischen Staaten gemalt wird, gleicht denn auch einem Horrorszenario: Armut, Chaos, Korruption, Mafia und atavistische ethnische Konflikte beherrschen die Schlagzeilen. Dabei wird vergessen, dass dort heute in mancher Weise nachgeholt wird, was in anderen Teilen Europas im Zeitalter der beiden Weltkriege vor sich ging. Trotz der genannten Kriege an der südlichen Peripherie sind die postimperialen Konflikte und "ethnischen Säuberungen" in der postsowjetischen Welt bisher weniger blutig verlaufen als in Mitteleuropa während der ersten Jahrhunderhälfte. Auch in der Epoche europäischer Einigung besteht kein Anlass zu Westeuropa-zentrischer Überheblichkeit, sondern zu kritischer Solidarität mit Osteuropa.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Osteuropäiche Geschichte an der Uni Wien.

Die Langfassung obigen Beitrags und weitere Informationen zur Thematik finden Sie in "Beiträge zur historischen Sozialkunde" 2/2000 hg. vom Verein für Geschichte und Sozialkunde.

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