New Yorker Nabelschau

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E-Mails von der Küche ins Kinderzimmer: Kurt Andersens "Tollhaus der Möglichkeiten".

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E-Mails von der Küche ins Kinderzimmer: Kurt Andersens "Tollhaus der Möglichkeiten".

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Alle Klischees werden wahr", so lautet Lizzie Zimbalists Motto. Wie oft sich dieses Motto vor ihren Augen schon bestätigt hat, kann sie an den Fingern nicht mehr abzählen. Kein Wunder als New Yorker Unternehmerin, Ehefrau eines Fernsehproduzenten und Teil der gehobenen Mittelschicht der größten amerikanischen Großstadt. Der Freundeskreis von Lizzie Zimbalist und ihrem Mann George setzt sich aus Anwälten, Brokern, Computer- und Fernsehfachleuten zusammen. Dieses Sammelsurium aus Yuppies und abgedrehten Künstlern eignet sich hervorragend zur Beobachtung von sozialen Verhaltensweisen. Der amerikanische Journalist Kurt Andersen kennt die Gesellschaft, über die er schreibt, sehr genau, und mit diesem Wissen bietet er einen tiefen Einblick in die Seelen der New Yorker.

Harold Mose ist der Boss eines großen Unternehmens. Ihm gehört auch der Sender MBC, für den George eine Fernsehserie produziert. Seit Lizzie ihre Firma an Mose verkauft hat und auf der Führungsebene für ihn zu arbeiten begann, wächst bei ihrem Mann nach und nach der Verdacht, die Beziehung zwischen den beiden beschränke sich nicht bloß auf das Geschäftliche. Diese Handlung ist aber Nebensache, da beim Leser nie auch nur der Hauch eines Verdachtes erzeugt wird, dass Georges Vermutungen sich bestätigen könnten. Die Spannung baut sich vielmehr auf der Frage auf, wann die Ehepartner die unhaltbaren Vorwürfe endlich aus dem Weg räumen werden.

Ein offenes Gespräch zwischen den Partnern und das in zwölf Jahren Ehe aufgebaute Vertrauen müssten alle Zweifel aus dem Weg räumen können. Doch der berufliche Stress und die stetige Strategie der Konfliktvermeidung lässt die Partnerschaft langsam zerbröckeln. Jeder belauert den anderen, jeder Zug erfordert einen Gegenzug. Bis das Netz von Ausflüchten und Lügen undurchdringlich wird.

Die Beziehungslosigkeit in der Gesellschaft wird offenbar und vom Autor in einer Szene auf den Gipfel getrieben, in der die Mutter in der Küche dem Sohn im Kinderzimmer ein E-Mail schreibt, in dem sie ihm lapidar mitteilt, dass das Essen angerichtet ist.

Der Großteil des Romans verbeißt sich allerdings satirisch in die kleinen und großen Verrücktheiten der Amerikaner. Andersen kennt keine Tabus, um, wenngleich sehr liebevoll, seine Landsleute auf die Schippe zu nehmen. So ist da zum Beispiele Lizzies Vater Mike. Er lebt in Los Angeles, wo er vor seiner Pensionierung als Agent Schauspieler und Musiker vertrat. Ein liebenswerter älterer Herr, zum dritten Mal verheiratet und voll von alten Geschichten über die Stars und Sternchen, die er früher vermittelt hat. Als seine Leber immer mehr Beschwerden macht und er auf ein gespendetes Organ nicht länger warten kann, begibt er sich in die Hände eines Arztes, der ihm eine genetisch manipulierte Schweineleber transplantieren soll. Keine der bisherigen Testpersonen überlebte die Operation auch nur ein paar Tage. Mike Zimbalist, jüdischer Abstammung, überlebt die Transplantation und seine Familie kann sich schon bald nicht mehr retten vor Angeboten für Fernsehfilme, Dokumentationen und Berichte über ihn. "Der Rabbi mit der Schweineleber" entwickelt sich zum nationalen Medienereignis. Einen Monat lang lebt er noch, und als Lizzie mit ihrer Familie nach Los Angeles fliegt, um der Beerdigung beizuwohnen, erfährt sie, dass ihr Vater nie ein Lebertransplantat hatte. Er war bloß Teil eines Placebo-Experimentes, lebte also mit seiner kranken Leber, die ihn angeblich in wenigen Tagen töten sollte, noch einen Monat.

Aber nicht nur die Heimat der Filmindustrie muss für Seitenhiebe herhalten. In Las Vegas besucht George die Eröffnung des Vergnügungsparks Barbie World, in dem nichts kitschig genug und keine Blondine zu blond sein kann. Georges' Schwager, der in den Südstaaten lebt, stellt ihm schließlich sein neuestes Projekt vor, "Familien auf ewig vereint", das so etwas Ähnliches wie ein Bestattungs- und Unterhaltungsunternehmen darstellen soll, natürlich mit der neuesten Technologie ausgestattet. Ein Friedhof, auf dem das Vergnügen nicht zu kurz kommt.

Mit langen Beschreibungen hält sich der Autor, der mit seinen Protagonisten kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten reist, nicht auf. Die Dialoge stehen im Vordergrund, durch sie definieren sich die Figuren des Romans. Durch ihre Art zu sprechen, sich auszudrücken, ob redselig oder verschlossen, ob offenherzig und naiv oder direkt, haucht Andersen seinem Buch Leben ein. Und die Gesellschaftssatire lebt von den schrulligen Menschen, die durch die Handlung geistern. Durch die oft unkommentierte direkte Rede wird Tempo und Spontaneität gewonnen.

Obwohl die Figuren mit allerlei verrückten Eigenheiten und Ideen ausgestattet sind, wirken sie dennoch nicht unglaubwürdig. Und darin liegt sowohl der Charme als auch der Humor, die den Roman "Tollhaus der Möglichkeiten" auszeichnen.

Tollhaus der Möglichkeiten Roman von Kurt Andersen, Karl Blessing Verlag, München 2000, 734 Seiten, geb., öS 365,-/e 26,55

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