Nibelungenlied als Makulatur

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Wissenschaftliche Sensationen sind kein Zufall. Hinter ihnen steht jahrelange Knochenarbeit.

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Wissenschaftliche Sensationen sind kein Zufall. Hinter ihnen steht jahrelange Knochenarbeit.

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Nibelungenlied" - der erste Gedanke der Wissenschaftlerin Christine Glaßner war ebenso aufregend wie richtig. Sie hatte in der Stiftsbibliothek Melk in einer spätmittelalterlichen Papierhandschrift mit theologischen Texten ein Pergamentfragment des Nibelungenliedes entdeckt.

Der Fund von Melk - ein glücklicher Zufall? Was der Wissenschaftlerin da zufiel, ist nicht so zufällig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Hinter wissenschaftlichen Sensationen steckt meist jahrelange Knochenarbeit. Im konkreten Fall arbeitet Christine Glaßner seit 1988 für die Akademie der Wissenschaften an der Katalogisierung mittelalterlicher Handschriften im Rahmen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters. Diese Kommission ist eine von 56 Forschungseinrichtungen der Akademie, die im vergangenen Jahr vielbeachtet ihr 150-Jahr-Jubiläum beging.

An den verschiedenen Kommissionen der Akademie laufen zahlreiche Forschungsprojekte. Ein solches ist die Katalogisierung der Handschriften der Stiftsbibliothek Melk. Alois Haidinger, Kunsthistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission, hatte diesen Forschungsauftrag 1991 mit viel Engagement initiiert und geleitet. Das Benediktinerstift Melk besitzt eine der größten kirchlichen Handschriftensammlungen Österreichs - 1.888 Bände, davon 1.150 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. An die 300 Handschriften, jene vom 9. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, wurden bereits katalogisiert.

Diese Arbeit ist mit der genauen Beschreibung eines Kunstgegenstandes vergleichbar. Jede Handschrift wird in ihrem äußeren Erscheinungsbild erfaßt: Größe, Blattzahl, Beschreibstoff wie Papier oder Pergament, Zusammensetzung der einzelnen Lagen, Erhaltungszustand, künstlerische Ausstattung, Einband und schließlich die Geschichte der Handschrift. Und jede Handschrift wird nach ihrem Inhalt beschrieben. Alle Texte, die sich in dieser Handschrift befinden, sollten identifiziert werden. Ein besonders mühsames Unterfangen.

Es war aber nicht ein solcher Handschriftenband, der für die Sensation in Melk sorgte, sondern ein Fragment. Genau gesagt: Ein in sechs Streifen geschnittener Teil eines Pergamentblattes, der im 15. Jahrhundert als Falzverstärkung verwendet worden war: Die 15 Strophen des Nibelungenliedes waren mehr als ein halbes Jahrtausend verborgen geblieben. Für die Mönche des 15. Jahrhunderts war die Nibelungenhandschrift bloß Makulatur: Verstärkungsmaterial für den Buchbinder. Nichts Ungewöhnliches: Buchbinder haben sich stets älterer, nicht mehr benützter Handschriften als Einbandmaterial bedient.

So läßt sich die Melker Schreibschule des 12. Jahrhunderts beinahe ausschließlich durch Fragmentfunde in Buchdeckeln nachweisen. Dieses Forschungsergebnis war übrigens ein erster Höhepunkt des Melker Katalogisierungsprojektes der Akademie. 1996, im Millenniumsjahr, wurden diese Funde erstmals in Melk präsentiert.

Sie waren eine "Verborgene Schönheit", wie jene Handschriftenausstellung im Stift Klosterneuburg nicht zu Unrecht heißt, die am 1. Mai eröffnet wird und bis 15. November läuft. Gezeigt werden etwa 100 Exponate, davon mehrere erstmals in der Öffentlichkeit. Zur Klosterneuburger Ausstellung erscheint ein vom wissenschaftlichen Leiter der Schau, Alois Haidinger, verfaßter Ausstellungskatalog. Wie in Melk hat Haidinger im Klosterneuburger Chorherrenstift die Handschriftenkatalogisierung entscheidend vorangetrieben. So liegen von 200 der ebenfalls rund 1.200 mittelalterlichen Handschriften, die die Stiftsbibliothek Klosterneuburg beherbergt, bereits Beschreibungen in gedruckten Katalogen vor.

Ähnliche Verzeichnisse sind derzeit für die Stifte Kremsmünster und Michaelbeuern und für die Universitätsbibliothek Innsbruck in Arbeit; 23 kleine private, kirchliche und öffentliche Sammlungen in Wien und Niederösterreich werden in einem Katalog der Streubestände erfaßt. Ein international besonders renommiertes Teilprojekt ist der Spezialkatalog "Illuminierte Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Natioalbibliothek". Hier werden die erhalten gebliebenen Schätze der mittelalterlichen Buchmalerei durch Abbildungen dokumentiert und wissenschaftlich dokumentiert.

Um diese Katalogisierungen zu erleichtern, wird derzeit parallel dazu ein EDV-Gesamtregister zu österreichischen Handschriftenbibliotheken erstellt. Schon jetzt sind Auszüge aus diesem Register im Internet verfügbar. Wie sehr der wissenschaftliche Austausch über den Datenhighway an Bedeutung zunimmt, zeigten auch die internationalen Reaktionen unmittelbar nach dem - ebenfalls im Internet - bekanntgegebenen Fund. Für interessierte Furche-Leserinnen und Leser die Adresse: http://www.oeaw.ac.at/~ksbm/ Nur wenige Tage wurde die Melker Katalogisierungsarbeit durch den Sensationsfund unterbrochen. Nach dem wissenschaftlichen Höhepunkt folgt der wissenschaftliche Alltag. Dennoch kann Christine Glaßner ihren Fund nicht unbearbeitet belassen: Viel zu viele offene Fragen sind zu beantworten. Die spannendste darunter: Besaßen die Melker Benediktiner eine eigene, komplette Abschrift des Nibelungenliedes?

Ab 28. März ist das Fragment in der Stiftsbibliothek Melk zu sehen.

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