Nicht antiquiert: Literatur-Archiv als lebendiger Ort

19451960198020002020

Sammeln, Forschen und Vermitteln: So versucht das Innsbrucker Brenner-Archiv das kulturelle Erbe in digitaler Zeit nicht nur zu bewahren, sondern auch an die interessierte Öffentlichkeit zu bringen.

19451960198020002020

Sammeln, Forschen und Vermitteln: So versucht das Innsbrucker Brenner-Archiv das kulturelle Erbe in digitaler Zeit nicht nur zu bewahren, sondern auch an die interessierte Öffentlichkeit zu bringen.

Werbung
Werbung
Werbung

Seit 1. Oktober 2014 leitet die Germanistin Ulrike Tanzer das Innsbrucker Brenner-Archiv. Die FURCHE sprach mit ihr über Forschungsschwerpunkte, die Balance von Archiv, Wissenschaft und Literaturvermittlung und über aktuelle Pläne und Vorhaben.

DIE FURCHE: Das Brenner-Archiv zählt zu den bedeutendsten Literaturarchiven Österreichs und nahm stets eine führende Position in der Literaturarchiv-Landschaft ein: zuerst unter Walter Methlagl, dann unter Johann Holzner. Welche Initiativen setzen Sie?

Ulrike Tanzer: Ausgangspunkt des Brenner-Archivs, das seit über 50 Jahren besteht, ist der Nachlass des Schriftstellers und Verlegers Ludwig von Ficker. Dessen Kulturzeitschrift Der Brenner, zwischen 1910 und 1954 -mit Unterbrechung zur Zeit des Nationalsozialismus - erschienen, wird weiterhin im Fokus der Forschungen stehen. Zum Brenner-Umfeld gehören auch die Korrespondenzen, die Ficker mit bedeutenden Schriftstellern, Philosophen und Intellektuellen geführt hat, etwa mit Paul Celan, Martin Heidegger, Christine Lavant, Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Christine Busta. Wichtige Forschungsprojekte konnten in diesem Zusammenhang unter der Leitung meiner Vorgänger zum Abschluss gebracht werden. Ich nenne hier nur die kürzlich vollendete historisch-kritische Innsbrucker Trakl-Ausgabe sowie Anton Unterkirchers Biografie über den Südtiroler Philosophen Carl Dallago. Der Brenner als das westliche Pendant zu Karl Kraus' Fackel bietet auch die Grundlage für weitere Fragestellungen, etwa zu Traditionen der Satire oder zu religiösen Kontroversen. Auch die Rolle Ludwig von Fickers als Kulturvermittler werden wir weiter beleuchten. Ein wichtiges Anliegen von mir sind - nach der abgeschlossenen Wittgenstein-Edition - Projekte zu philosophischen Beständen des Archivs. Die Lebenserinnerungen Hermine Wittgensteins wurden eben ediert. Und erstmals wird heuer eine Wittgenstein-Gastprofessur an der Universität Innsbruck installiert.

DIE FURCHE: Sie haben Georg Trakl erwähnt - vor kurzem ist ein bisher unbekanntes Gedicht von ihm gefunden worden. Was bedeutet ein solcher Fund für die Forschung?

Tanzer: Dieser Fund ist ohne Übertreibung eine Sensation! Die Bedeutung Hölderlins für Trakl ist in der Forschung bereits ausführlich dokumentiert worden. Das jetzt aufgefundene, handschriftliche Gedicht mit dem Titel "Hölderlin" auf dem ersten Blatt einer "Hölderlin"-Ausgabe aus dem Jahr 1905 bestätigt dies nachdrücklich. Neben "An Novalis" ist dies das zweite Widmungsgedicht, das Trakls literarische Bezugsgrößen deutlich macht. Es ist sehr erfreulich, dass dieser wertvolle Fund von der Salzburger Kulturvereinigung angekauft und damit in Österreich gehalten werden konnte.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie die Balance zwischen Archiv, Wissenschaft und Vermittlung? Wo wird das Hauptaugenmerk liegen? Immerhin hat das Brenner-Archiv mit diesem Drei-Säulen-Modell eine Vorreiter-Rolle im deutschsprachigen Raum.

Tanzer: Dieses Konzept der drei Säulen - Sammeln, Forschen und Vermitteln - ist, so meine ich, ein Erfolgsmodell geworden. Ohne die systematische Erwerbung von Manuskripten und literarischen Archiven wären Forschung und Wissenschaft schwer möglich. Das Vermitteln ist der Aspekt der Öffnung: Aktives Zugehen auf Forscher, eigene Kompetenzen nützen und vor allem: das Archiv lebendig machen und diesem dadurch Sinn verleihen. Das bedeutet auch, dass die Bewahrung der Bestände, die Aufarbeitung und verantwortungsvolle Betreuung im Fokus bleiben müssen. Diese Aspekte werden in der Öffentlichkeit oft nicht unmittelbar wahrgenommen, sind aber Voraussetzung für zukunftsorientierte Archivarbeit. Wir möchten auch internationale Forscher ansprechen, noch mehr Studierende und die interessierte Öffentlichkeit einladen, die Bestände zu nützen und zu den Veranstaltungen zu kommen. Dass die richtige Balance zwischen den drei Säulen eine ständige Herausforderung bedeutet, empfinde ich als reizvolle Aufgabe, auch in der Teamarbeit mit den erfahrenen Mitarbeitern. Außerdem ist das Literaturhaus am Inn Bestandteil des Brenner-Archivs, das ermöglicht zusätzlich viele interessante Kooperationen.

Das Hochhaus in der Josef-Hirn-Str. 5 ist kein abgeschotteter Elfenbeinturm, sondern ein lebendiger Ort der Literatur und der regen Auseinandersetzung.

DIE FURCHE: Das Brenner-Archiv und das Literaturhaus am Inn sind Angelpunkt für Tiroler und Südtiroler Autoren. Welche Rolle spielt hier die Institution für die literarische Identität Tirols?

Tanzer: Neben den Forschungen zum Brenner ist die Aufarbeitung der Kulturgeschichte des gesamten Tiroler Raums von zentraler Bedeutung. Wichtige Vor- und Nachlässe Tiroler Autoren finden sich im Brenner-Archiv. Digitale Projekte wie "Lexikon Literatur in Tirol" und "Literatur-Land-Karte Tirol" verstehen sich auch als Bausteine einer regionalen Literaturgeschichte. Als Ort des Gedächtnisses erfüllt das Brenner-Archiv eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Vor allem die jüngere Schriftstellergeneration agiert - gleichsam konträr zu einer neuen Besinnung auf die Regionen - in einem größeren Kontext. Es greift definitiv zu kurz, Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Sabine Gruber oder Norbert Gstrein auf ihre regionale Herkunft zu reduzieren.

DIE FURCHE: Wie reagiert das Brenner-Archiv auf die Möglichkeiten der Digitalisierung ?

Tanzer: Die Frage der digitalen Langzeitarchivierung ist ein wichtiges Thema. Schließlich unterliegen auch digitale Daten einem Verfallsprozess. Veraltete Disketten, die nicht mehr geöffnet werden können, sind ein Beispiel dafür. Die Digitalisierung bietet aber auch neue Möglichkeiten, so werden vor allem die wertvollsten Materialien, aber auch viel benützte sowie entlegene Publikationen digitalisiert, um Forscher in ihren Arbeiten zu unterstützen. Dennoch bleibt die Arbeit mit den Originalen von großer Relevanz. Seit meiner Dissertation über Marie von Ebner-Eschenbach habe ich in verschiedenen Archiven im In-und Ausland gearbeitet. Diese Erfahrung hat mich als Literaturwissenschaftlerin geprägt und für die Bewahrung des kulturellen Erbes sensibilisiert.

DIE FURCHE: Welche Vorhaben stehen in nächster Zeit an?

Tanzer: Am 12. März 2016 jährt sich zum 100. Mal der Todestag der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach. Mit einer internationalen Tagung in der Wienbibliothek im Rathaus, wo sich auch ein großer Teil des Nachlasses befindet, und der Präsentation der vierbändigen Leseausgabe sowie der Biografie von Daniela Strigl wird Leben und Werk dieser bedeutenden Autorin neu diskutiert und vermessen. Damit wird diese bedeutende und leider zunehmend in Vergessenheit geratene Autorin heuer in den Fokus des literarischen und literaturwissenschaftlichen Interesses rücken, das freut mich ganz besonders! Mit den Poetik-Vorlesungen, dieses Jahr mit der Lyrikerin Barbara Hundegger, setzen wir eine langjährige Innsbrucker Tradition fort. Mit der neu geschaffenen Wittgenstein-Gastprofessur wird ein neuer Akzent gesetzt, da werden wir im April die aus Wien gebürtige renommierte amerikanische Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Marjorie Perloff zu Gast haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung