Nicht mehr hören müssen

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Monique Schwitter erzählt in ihrem ersten Roman von sehr ernsten und von sehr komischen Dingen.

Ein junges Paar zieht im Jahr 1994 in ein Zürcher Mietshaus ein. Er, von dem man erst auf Seite 98 erfährt, dass er Fabian Zumsteg heißt, hat eine Theorie, deren Urheber, "einziger Proband und Nutznießer" er selbst ist; dabei geht es um die mögliche Entdeckung des freien Willens: Der Mensch "müsse seinen Tatenbetrieb erst einmal gegen Null fahren und sich eine längere Zeit der Tatenabstinenz verordnen, um die Beweggründe für seine Taten und Entscheidungen zu prüfen". Deshalb notiert Herr Zumsteg, obzwar er sich als "Prosaist" und "Biograf" versteht, kein einziges Wort. Seine Freundin, die Ich-Erzählerin, bestreitet die Sinnhaftigkeit dieses Konzepts heftig, bewundert ihren "Mann", wie sie ihn nennt, aber trotzdem dafür.

Merkwürdigerweise erlahmt die Wortgefechtsbereitschaft der Beiden, sobald sie zusammenwohnen. Überhaupt verändert sich einiges: ",Es lebe das Chaos! Jeder Tag ist anders!' war unser Credo. Aber jeder Tag festigte unsere Gewohnheiten. Wir hätten es lautstark geleugnet, aber wir hatten einen Tagesablauf." Er schläft lange, sie badet ausgiebig und häufig, er gewöhnt sich ans Biertrinken und geht abends mit Gerd aus, dem ruppigen Motorrad-Freak. Gerd ist der Lebensgefährte der geheimnisvollen Agnes, die Weiß trägt und stets barfuß geht, ein kryptisch lächelndes Blumenmädchen, das seine Parterre-Wohnung in ein Tropengewächshaus verwandelt hat, das Sprechen in Formeln liebt und nicht nur auf die Erzählerin eine beträchtliche Faszination ausübt.

Musik und Gekratze

Außerdem wohnen dort: eine ältliche Lehrerin, drei Studenten, ein (angeblich) Cello spielender Amerikaner, eine Schneckenhäuser malende, kinderlose Kinderärztin. Was sich bei den anderen Hausparteien abspielt - Bruckners "Nullte" Symphonie oder Dschungelmusik aus Kamerun, Gekratze in Töpfen oder Telefongespräche über Seminararbeiten - davon kann das neu eingezogene Paar ein Lied singen, denn die Wände sind dünn.

Eine besonders originelle Konstellation für einen Roman ist das eigentlich nicht. Und doch hat Monique Schwitter daraus eines der originellsten, witzigsten und gewitztesten Bücher der letzten Jahre gemacht. Daran ändern auch anfangs eingestreute Albernheiten wie "gell, lieber Leser" nichts. Vor allem hat Schwitter mit "Ohren haben keine Lider" einen Text über das Hören geschrieben, über die Wonnen, aber mehr noch über die Nöte der Akustik. Janusköpfig erscheint auch das Haus: Hinten hat es einen idyllischen Garten am Fluss, vorn stellt es eine multifaktorielle Lärmhölle dar: Elektrizitätswerk, Transitstraße, Karaokebar heißen die Komponenten des Grauens in wandelbarer Reihenfolge. Der Titel, in dem das akustische Leitmotiv bereits erklingt, verdankt sich dem einmal geäußerten Wunsch der Erzählerin, "mit Ohrenlidern geboren zu sein und diese Musik nicht mehr hören zu müssen". Womit sie aber nicht Bob Dylan meint, der in dieser Geschichte einiges zu sagen hat.

In aller gespielten Unschuld erzählt Monique Schwitter in ihrem Romanerstling (nach dem Erzählband "Wenn's schneit beim Krokodil") von sehr ernsten und sehr komischen Dingen. Komisch ist das gereizte Duldertum, mit dem Herr Zumsteg am Gangklo seine Verstopfung zelebriert, oder der Schlagabtausch mit Frau Baumgartner, der Pädagogin, auf deren ständige Ermahnungszettel die Erzählerin irgendwann mit subversiver Unterwerfung reagiert: "Bitte um weitere Hinweise!" Oder: "Ich glaube daran, dass der Mensch lernfähig ist, also auch ich!"

Bewusstes Leben

Ernst ist die Frage nach der Möglichkeit, sein Leben bewusst zu wählen oder mit Hilfe diverser Drogen auf Distanz zu halten: In letzterem scheinen beinah alle Hausbewohner sehr bewandert. Ernst ist die erotische Anziehungskraft der barfüßigen Agnes und vor allem die Tatsache, dass sie eines gewaltsamen Todes stirbt, der auch im unorthodox zerflatternden Teil zwei nicht wirklich aufgeklärt wird. Und das obwohl die Erzählerin, von der nun in der dritten Person die Rede ist, einige Jahre später in Berlin zufällig mit einer "Kriminalkommissar-Anwärterin" zusammenzieht, die sich per Ferndiagnose in den Fall hineinkniet. Dieselbe Wohngemeinschaft hält für die Zugereiste einen Mann bereit, bei dem auch das Ohren-Motiv quasi seine Erfüllung findet: einen, der statt der programmatischen Langeweile rastloses Tätigsein bevorzugt - nein, keinen Ohropax-Erzeuger, sondern einen "Pädaudiologen", einen Facharzt für auditive Wahrnehmung und Hörstörungen. Ihn heiratet sie im Jahr 2007, und der Leser staunt über das tröstliche Ende eines erquickenden Buches.

Ohren haben keine Lider

Roman von Monique Schwitter

Residenz-Verlag, St. Pölten-Salzburg 2008. 314 Seiten, geb., € 19,90

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