Nichts für vorgefasste Meinungen

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Die ältesten schriftlichen Zeugnisse der Evangelien geben keine Auskunft über deren Entstehungsdatum, wohl aber über die Zuverlässigkeit der Texte.

Handschriftliche Zeugen der biblischen Schriften - und hier vor allem der Evangelien - üben eine ungeheure Faszination aus. Allein ihr Anblick reicht, um die Phantasie anzuregen. Gerade die ältesten Handschriften der Bibel sind oftmals kleine oder größere Papyrusfragmente, die häufig nur einen Teil einer Seite ausmachen. Das vermittelt den Eindruck, dass etwas lange Verborgenes enthüllt, etwas Verschollenes wiedergefunden wird. Ein wenig spielt auch immer wieder die Frage mit, ob hier vielleicht der ursprüngliche Text des Neuen Testaments zum Vorschein kommen könnte, vielleicht, so scheinen sich viele zu fragen, wurde ja doch von der Kirche etwas unterdrückt. Verstärkt wird diese Anziehungskraft durch den Umstand, dass die handschriftliche Überlieferung dieser christlichen Schriften gerade durch die diokletianische Verfolgung ausgedünnt wurde, der Anfang des vierten Jahrhunderts zahllose christliche Schriften zum Opfer fielen. Fast alle erhaltenen Handschriften des Neuen Testaments sind nach dieser Zeit entstanden. Gleichzeitig ist unsere Gesellschaft durch die Schrift geprägt, die Sachverhalte zu objektivieren vermag. Und so werden Handschriften oft auch als "handschriftliche Zeugen" der Bibel bezeichnet. Von einer derartigen Aura des Geheimnisvollen profitieren dann auch moderne Bücher, die mit reißerischen Titeln die neuesten Enthüllungen aus der Zeit Jesu versprechen, die uns die Kirchen angeblich so lange vorenthielten.

Stunde und Grenzen der Textkritik

Vor allem evangelische Bibelwissenschaftler waren es, die literarkritische Methoden auf die Schriften der Bibel anwendeten, um die Texte zu analysieren. Man übernahm dabei das Handwerkszeug der Philologen, die einzelnen Schriften wurden gleichsam seziert. Man fand Brüche und nachträgliche Einfügungen, man stellte Hypothesen über die Abfassungszeit der einzelnen Evangelien und Briefe auf. Hierfür werden verschiedene Kriterien herangezogen, denen jedoch allen eines gemeinsam ist: Die Sprache und der Inhalt der Evangelien werden analysiert, die Evangelien werden in Verhältnis zu einander gesetzt und Abhängigkeiten oder Unvereinbarkeiten der Geschichten festgestellt. In vielen Fällen herrschen Meinungsverschiedenheiten; was der eine Forscher für später hält, wird von einem anderen für früher angesehen. Was der eine für ein echtes Jesuswort hält, davon glaubt der andere, dass diese Formulierung überhaupt erst von den Anhängern Jesu geprägt und ihm bei der Verfassung der Evangelien nachträglich in den Mund gelegt wurde. Bereits die Anfänge der Literarkritik wurden mit Argusaugen von der katholischen Kirche begutachtet. Vorsorglich verurteilte man Anfang des 20. Jahrhunderts diese Forschungsrichtung der Theologie gleich durch mehrere Dokumente, um sie dann fast 40 Jahre später (im Jahr 1943) als berechtigten Zweig der Bibelwissenschaft zu akzeptieren.

Im ersten Moment klingen die Folgerungen der großen Mehrheit der Textkritiker auch etwas unverdaulich für den gläubigen Leser der Bibel: Die vier Evangelien sind demzufolge alle erst nach dem Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. entstanden, das Johannesevangelium wahrscheinlich sogar erst kurz vor der Wende zum zweiten Jahrhundert. Und noch dazu ist nicht alles, was Jesus in den Evangelien sagt und tut, historisch genau in der erzählten Form passiert. Man verwendet für die Datierung der Evangelien unter anderem Hinweise in einzelnen Bemerkungen Jesu auf die Zerstörung des Tempels. Viele Literarkritiker vermuten nun, dass es sich dabei um sogenannte vaticinia ex eventu - prophetische Reden, die erst nach dem Ereignis verfasst wurden - handelt. Diese prophetischen Ankündigungen wären also Jesus von der Urgemeinde oder den Evangelisten in den Mund gelegt worden. So kommt man auf das Jahr 70 n. Chr. als wichtigen Termin bei der Datierung der Evangelien.

Was wäre in dieser Situation nun besser, als einen unverfänglichen Zeugen dafür zu besitzen, dass die Evangelien bereits früher verfasst wurden? Damit wären viele Probleme gelöst, angeblich unechte Jesusworte würden wieder in zeitliche Nähe zu Jesus gerückt und damit eher als echt gelten.

Kein Beweis für Markus in Qumran

Bei der überwiegenden Mehrzahl der handschriftlichen Zeugen des Neuen Testaments besteht jedoch das Problem, dass auf ihnen kein Datum geschrieben steht. Und so ist man bei der Datierung auf Hilfsmittel wie die Fundumstände oder den Vergleich der Handschrift mit datierten Handschriften angewiesen. Handschriftenvergleiche sind schwierig und fehlerträchtig. Manche glauben, ein kleines Papyrusfragment aus Qumran als unverfänglichen Zeugen präsentieren zu können: Dort hat man angeblich die wenigen erhaltenen Buchstaben auf einem kleinen Stückchen Papyrus aus Höhle 7 von Qumran als Rest des Markusevangeliums identifiziert (siehe Bild oben). Faszinierend wäre ein solcher Fund, würde er doch eine wichtige Grenze der Textkritiker durchbrechen: Die Bewohner von Qumran flohen im Jahr 68 vor dem heranrückenden römischen Heer, bevor diese Jerusalem und den Tempel bei der Eroberung der aufständischen Stadt zerstörten. Einen Zeugen dafür zu finden, dass das Markusevangelium in Qumran bei der Flucht zurückgelassen worden war, wäre ein epochaler Fund: Große Teile des wissenschaftlichen Gebäudes der Textkritiker würden in sich zusammenstürzen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist zu sagen: Das wäre schön, lässt sich aber nicht beweisen. Die Argumentation der Befürworter dieser Identifikation hat mehrere Schwachstellen: Man argumentiert, dass noch andere, sehr kleine Papyrusschnipsel korrekt identifiziert werden konnten. Es gibt jedoch mehr als genug Beispiele dafür, dass selbst größere Stücke falsch ergänzt wurden. Eine "zweifelsfreie Identifikation" wird behauptet, die weitreichende Konsequenzen hätte. In einem solchen Fall darf man nur damit argumentieren, wie viel Text mindestens erhalten sein muss, damit es sicher und zweifelsfrei identifiziert werden kann.

Weiter gilt: In den wenigen erhaltenen Buchstaben muss ein Schreibfehler angenommen werden, um die vorhandenen Buchstaben überhaupt als Rest des Markusevangeliums identifizieren zu können. Dass zusätzlich noch drei Wörter gegenüber dem überlieferten Text des Markusevangeliums fehlen müssen, um die Buchstaben zum einem winzigen Abschnitt aus diesem Evangelium zu ergänzen, macht es gänzlich unwahrscheinlich, dass der Text auf dem Papyrusfragment tatsächlich ein Teil des Markusevangeliums war. Nicht eigens erwähnt werden muss, dass die wenigen erhaltenen Buchstaben auch noch auf völlig andere Weise sinnvoll ergänzt wurden, dass neben Stellen aus dem Alten Testament auch profane Schriftsteller mit den wenigen Buchstaben in Einklang gebracht werden konnten. Da dies Texte sind, die auch sonst in Qumran gefunden wurden, sollte man einer dieser Identifizierungen den Vorzug geben.

Warum, so mag man fragen, bleibt die Hypothese von "Markus in Qumran" aufrecht? Es handelt sich um den untauglichen Versuch, mit pseudowissenschaftlichen Argumenten Sicherheit in Glaubensfragen zu erhalten. Die Sicherheit soll vorgegaukelt werden, dass es beweisbar sei, die Evangelien wären nur kurze Zeit nach dem Tod Jesu verfasst worden. Das ist auf diesem Weg nicht möglich.

Wirklich interessant wird jedoch die Sache dadurch, dass auch der gegenteilige Versuch bereits unternommen wurde: Man hat versucht, den Nachweis zu führen, dass das Fragment gerade nicht eine Evangelientext enthalte. Auch dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Der Nachweis, was auf diesem kleinen Fragment tatsächlich stand, würde sich erst führen lassen, wenn weitere Papyrusfragmente dieses Blattes vorhanden wären, die man zusammenfügen könnte. Dann könnte man sicher wissen, was auf dem fehlenden Text des Papyrus geschrieben war. Weil dies nicht möglich ist, bleibt aus wissenschaftlicher Sicht die vorsichtige Antwort: Es muss als sehr unwahrscheinlich gelten, dass es sich bei dem fraglichen Fragment aus Qumran tatsächlich um ein Blatt mit Text aus dem Markusevangelium gehandelt haben kann. Dagegen spricht einerseits die Annahme von Fehlern, die notwendig ist, um das Stück überhaupt als Text dieses Evangeliums identifizieren zu können. Dagegen spricht weiter, dass es Texte gibt, mit denen die Buchstaben auf dem Fragment identifiziert werden können, die auch tatsächlich in Qumran verwendet wurden, das heißt, alttestamentliche Schriften und profane Literatur.

Was Handschriften nicht können

Die handschriftliche Überlieferung der Heiligen Schrift kann damit nichts dazu beitragen, einen sicheren Termin der Abfassung der neutestamentlichen Schriften festzustellen. Die älteste erhaltene Handschrift (ein Rest des Johannesevangeliums, vgl. Bild) stammt aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Allerdings können die Handschriften sehr viel über die Zuverlässigkeit der Texte aussagen, über Fehler beim Abschreiben, über nachträgliche Einfügungen in den Text oder Veränderungen der Formulierungen. Für die neutestamentlichen Handschriften gilt: Sie sind von Anfang an sehr genau und texttreu abgeschrieben und tradiert worden. Über das genaue Entstehungsdatum eines Evangeliums können sie jedoch keine Auskunft geben.

Der Autor ist an der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek im Rahmen eines vom Wissenschaftsfonds geförderten Forschungsprojektes tätig.

Papyrusmuseum:

Frühchcristliche Handschriften sind im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, 1010 Wien, Heldenplatz, Mitteltor (Tel. 01/53410-420) zu sehen (Mo, Mi bis Fr 10 bis 17 Uhr) www.onb.ac.at/sammlungen/papyrus/

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