Nostalgie - © Foto: iStock/kcslagle

Nostalgie: die Zukunft, die wir einmal hatten

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Nostalgie: Das eigentümliche Gefühl könnte als emotionale Signatur unserer Zeit gelten. Als wertvolle innere Ressource ist sie ein Segen, als kollektive „Retromania“ wird sie zum Fluch.

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Nostalgie: Das eigentümliche Gefühl könnte als emotionale Signatur unserer Zeit gelten. Als wertvolle innere Ressource ist sie ein Segen, als kollektive „Retromania“ wird sie zum Fluch.

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Im Jänner 2012 kehrte Svetlana Boym nach Wien zurück. Die amerikanische Literaturwissenschafterin hatte sich Anfang der 1980er Jahre eine Weile in Simmering aufgehalten, wo zu jener Zeit die Hebrew Immigrant Aid Society mit stillschweigender Unterstützung der Kreisky-Regierung ein Flüchtlingslager betrieb. Das Lager befand sich auf einer Liegenschaft des Roten Kreuzes in der Dreherstraße. Entlegen am Stadtrand von Wien sollte es so wenig Aufsehen wie möglich erregen, um nicht den Unmut von Anrainern oder palästinensischen Terroristen auf die Menschen zu ziehen, die dort, hinter Stacheldraht und von Bundesheersoldaten mit Schäferhunden bewacht, einige Wochen verbrachten, bevor sie ihren Weg nach Israel oder woandershin fortsetzten.

Eine der Bewohnerinnen war Svetlana Boym, damals eine junge Frau, die aus der Sowjetunion emigriert war, um im Westen ein neues Leben zu beginnen. Boym hatte in Leningrad ihre Eltern zurückgelassen und reiste erzwungenermaßen mit leichtem Gepäck, aber voller Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Von Simmering gelangte die junge Russin nach Boston, erhielt Asyl und machte als Professorin der Harvard-Universität, als Künstlerin und Autorin Karriere, bevor sie 2015 einem Krebsleiden erlag. Zu Boyms erfolgreichsten Werken gehört die 2001 publizierte Studie „The Future of Nostalgia“, in der sie dieses eigentümliche Gefühl sezierte, das heute so allgegenwärtig scheint, dass es als emotionale Signatur unserer Zeit gelten kann.

Krank machendes „Heimwehe“

Geprägt wurde das Wort Nostalgie bekanntlich vom Basler Doktoranden Johannes Hofer, der es 1688 aus den griechischen Wörtern „nostos“ (Heimkehr) und „algos“ (Schmerz) zusammensetzte, um einen medizinischen Fachterminus für das krank machende „Heimwehe“ zu haben, unter dem Schweizer Söldner in der Fremde litten. Bereits Immanuel Kant erkannte im „Heimweh der Schweizer […] die Wirkung einer durch die Zurückrufung der Bilder der Sorgenfreyheit und nachbarlichen Gesellschaft in ihren Jugendjahren erregten Sehnsucht nach den Oertern, wo sie die sehr einfachen Lebensfreuden genossen“. Mit anderen Worten: Solches Heimweh beruht auf der Verwechslung eines vergangenen Zeitabschnitts mit dem Ort, an dem man ihn verlebt hat. In dieser Spannung steht das Wort Nostalgie noch immer, auch wenn esim deutschen Sprachgebrauch heute eher in die Zeitdimension weist. Laut Duden bezeichnet es eine „von unbestimmter Sehnsucht erfüllte Gestimmtheit, die sich in der Rückwendung zu einer vergangenen, in der Vorstellung verklärten Zeit äußert“. Und wer wäre frei davon? Wir alle sind Vertriebene aus den Paradiesen unserer Kindheit.

Ihren Sachbezug hat die Nostalgie damit nicht verloren. Allerdings suchen wir das Verklärte heute weniger an „den Oertern“ als in bestimmten Dingen, deren Konsum uns das Gefühl einer Verbindung mit der Vergangenheit verschaffen soll. Wie andere Gefühle haben wir auch Nostalgie in eine Ware verwandelt, wobei die „Economics of Nostalgia“ nicht erst seit der Covid-Pandemie boomen und ein Abflachen der „Retrowelle“ nicht in Sicht ist. Hat jemand ein Problem damit?

Von Retromania bis Retrotopia

Krystine Batcho wohl nicht. Die Psychologin, die seit den 1990er Jahren am LeMoyne College in Syracuse (New York) über Nostalgie forscht, hat herausgefunden, dass persönliche, auf die eigene Biografie gerichtete Nostalgie eine wertvolle innere Ressource ist, die uns in einer immer schnelllebigeren Zeit hilft, unsere Identität und psychische Stabilität zu wahren. Doch was für das Individuum ein Segen ist, droht für die Gesellschaft zum Fluch zu werden, wenn nämlich die Sehnsucht nach der Vergangenheit in kollektive – so 2011 der Befund des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds – „Retromania“ ausartet. Oder gar in „Retrotopia“: Unter diesem Titel beschrieb Zygmunt Bauman in seinem letzten Werk, bevor er 2017 starb, die „globale Epidemie der Nostalgie“, die das Erbe aller gescheiterten Utopien angetreten habe. Sie treibe an der Moderne irre gewordene Menschen in die Arme von Demagogen, die versprechen, ihre jeweilige Stammesgruppe „great again“ zu machen.

Dass Nostalgie im Kontext von Krise verhandelt wird, ist nichts Neues. Der Berliner Historiker Tobias Becker hat in mehreren Aufsätzen skizziert, wie das Wort vor fünfzig Jahren Einzug in den öffentlichen Diskurs hielt – etwa zur gleichen Zeit, als der Rausch des Wirtschaftswunders einer kollektiven Katerstimmung wich. In seinem Bestseller „Future Shock“ von 1970 sah Alvin Toffler die (amerikanische) Gesellschaft von einer „gewaltigen Welle der Nostalgie“ überrollt. Die Welle schwappte bald auch nach Europa, wo Der Spiegel 1973 feststellte, Nostalgie sei die „allerneuste Mode-Vokabel der Kultur-Szenerie“. Befeuert wurde der Diskurs durch das erste Fünfziger-Jahre-Revival, das damals einsetzte und das linke Intellektuelle als Ausdruck einer so verbreiteten wie bedenklichen Neigung zum Eskapismus brandmarkten, während der Philosoph Hermann Lübbe dem Rückbezug zur Vergangenheit wenigstens entlastende Wirkung in einer sich immer schneller wandelnden Welt zugestehen wollte.

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