Thema: Freiheit/Abhängigkeit
Ich bin Muslim, weil meine Eltern Muslime sind. Sie gaben ihren Glauben an mich und meine Geschwister weiter. Für meine Eltern, die im Libanon aufwuchsen, wo etwa eine Hälfte der Bevölkerung Muslime und die andere Christen sind, war die konfessionelle Vielfalt der Gesellschaft selbstverständlich. Schon als Kind erklärte mir meine Mutter, dass Muslime, Juden und Christen an denselben Gott glauben, beten, und auf dessen Gnade hoffen. Sie würden sich lediglich in der Art und Weise der Ausübung ihres jeweiligen Glaubens unterscheiden. Meine Kindheit verbrachte ich aber in Saudiarabien, in einer Gesellschaft, die eine konfessionelle Vielfalt nicht kennt. In der Schule wurde uns vom Religionslehrer beigebracht, dass nur der Islam die einzig wahre Religion sei. Juden wie auch Christen hätten die falsche Religion und könnten daher nicht auf die Gnade Gottes hoffen. Maßlosigkeit und Ungerechtigkeit seien deshalb in westlichen Gesellschaften sehr verbreitet.
Als ich, um zu studieren, nach Österreich kam, machte ich aber eine völlig andere Erfahrung. Ich sah hier weit mehr Gerechtigkeit als in der saudischen Gesellschaft und fragte mich, ob nicht ich derjenige bin, der den falschen Glauben hatte. Als ich daraufhin begann, mich intensiv mit dem Koran zu beschäftigen, las ich schon in der zweiten Sure, Vers 170 folgende Kritik an der unreflektierten Übernahme des Glaubens von den Eltern: „Und wenn man zu ihnen spricht: ‚Folgt, was Gott offenbart hat‘, sagen sie: ‚Nein, wir folgen dem Glauben unserer Väter.‘ Was aber, wenn sich ihre Väter geirrt haben?“ Heute weiß ich, dass es nicht um die Betitelung „Muslim“, „Jude“, oder „Christ“ geht, sondern um den reflektierten Glauben und die damit verbundene soziale Verantwortung. Die jeweilige Religion ist nur der Weg dorthin. Der Koran hilft mir auf diesem Weg, deshalb bin ich Muslim.
Der Autor ist Islamwissenschafter und Imam in Wien
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