Die Schweiz nähert sich nolens volens an den Europäischen Wirtschaftsraum an. Denn den bisherigen bilateralen Abkommen mit der EU fehlen Rechtssicherheit - und die Mitentscheidung des EU-Parlaments.
Die Schweiz bringt Europa näher zusammen. Mehrere Hundert Menschen feierten ein richtiges Freudenfest, als am 15. Oktober der Durchstich durch den Gotthard-Basistunnel mit Schweizer Präzision nach 17 Jahren Planung gelang. Frühestens ab 2016 soll dann noch mehr Frachtgut auf der Schiene quer durch Europa transportiert werden können. Die derzeit rund 1,2 Millionen Lastwagen, die jährlich durch die Alpen donnern, sollen auf die Hälfte reduziert werden. Frankreich und Italien rücken verkehrstechnisch näher zusammen, die Fahrtzeit zwischen Zürich und Mailand schrumpft auf zwei Stunden und 50 Minuten. Um umgerechnet mehr als 15 Milliarden Euro wird die Schweiz den mit 57 Kilometern bis dato längsten Eisenbahntunnel der Welt bauen. Zudem erleichtere der Tunnel Bern vom politischen Druck, der von der Europäischen Union aufgrund einer Reihe von Knackpunkten wie Steuerpolitik oder Bankgeheimnis komme.
Symbolisches Bekenntnis
Das Land zeige mit den Investitionen in die Schieneninfrastruktur symbolisch sein Bekenntnis zu Europa, schrieb die Financial Times. Aber man kann das Symbol auch ganz anders deuten, nach dem Motto "Seht her, wir machen etwas für Europa, fordern dafür aber Verständnis für unseren Sonderweg". Das, sagt Carl Baudenbacher im Interview (siehe unten), würde dem schweizerischen Denken entsprechen. Der EU-Rechtsprofessor an der Universität St. Gallen plädiert seit gut 20 Jahren sinngemäß für eine auch politische Europäisierung seines Landes. Jedoch erfolglos.
Die kleine, aber reiche Insel der acht Millionen Seligen inmitten von Europa verfolgt lieber eine Kopf-in-den-Sand-Politik, hat man den Eindruck. Ein bisschen möchte man am europäischen Binnenmarkt ohne Grenzen schon teilhaben. In einer globalisierten Welt zumal der Wirtschaft kann man sich schließlich nicht ganz abschotten. Doch ein EU-Beitritt kommt für die Bevölkerung nicht infrage. Dazu tragen auch Qualitätsmedien wie die Zürcher Weltwoche sowie der Milliardär, Schlossbewohner und Stimmungsmacher Christoph Blocher (70) mit seiner nationalkonservativen Partei SVP ihr Schäuflein bei. Die schleichende Europäisierung des Landes ist ein Paradoxon. Fragt man die Bevölkerung in der EU, wünscht sie sich laut Eurobarometer-Umfragen kein anderes Land mehr in der Union als die Schweiz. Doch die will nicht. Im Mai 1992 beschloss der Bundesrat mit 4:3 Stimmen, die EU um Beitrittsverhandlungen zu ersuchen. Jedoch den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) - dem Vorzimmer zur EU - lehnten die Schweizer per Volksabstimmung knapp (50,3 Prozent) und die Stände eindeutig (16:7 Stimmen) im Oktober 1992 ab. Über umständliche Umwege hat die Schweiz ihre Öffnung zu Europa hin bis dato erreicht: über bilaterale Abkommen mit der EU. Es sind 120 an der Zahl, wobei das letzte vor sechs Jahren abgeschlossen wurde. Damit soll jetzt Schluss sein. Einerseits scheint die Geduld der EU am Ende zu sein, andererseits kriegt Bern keine Wünsche mehr durch.
Rechtliche Bedenken
Zwar ist die Schweiz Mitglied der europäischen Freihandelsassoziation (Efta), aber als einziger der vier Efta-Staaten (mit Norwegen, Island und Liechtenstein) nicht EWR-Mitglied - und unterliegt damit auch nicht der "fremden" Rechtsprechung durch den Efta-Gerichtshof. Denn dass ein anderes als ein nationales Gericht bestimmt, welches Recht gilt, ist den Schweizern ebenfalls ein Dorn im Auge. Ähnliche Bedenken gab es auch in Österreich im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt und der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes (EuGH).
Die Verwaltung der vielen bilateralen Verträge wird der EU zu lästig. "Stellen Sie sich die ganze Bürokratie vor, wenn nur ein Paragraf geändert werden muss", gab ein EU-Beamter zu bedenken. Denn Recht entwickelt sich ständig weiter. Bloß hat die Schweiz die Änderungen im EU-Recht bisher nicht automatisch übernommen. EU-Präsident Herman Van Rompuy erklärte daher, bei künftigen Verhandlungen von bilateralen Abkommen könne die Schweiz nicht mehr selbst entscheiden, ob sie das sich laufend ändernde EU-Recht für sich übernehmen wolle. Sie müsse es. Tatsächlich passt sich die Schweiz seit Jahren dem Gemeinschaftsrecht an: Etwa in den Gesetzesrevisionen von 2004 bis 2007 wurde in 15 Prozent der Fälle EU-Recht vollständig und in 33 Prozent teilweise übernommen, geht aus einer Studie der Universität Bern hervor.
Der Bevölkerung schenkt man hingegen keinen reinen Wein ein, eine offene Diskussion bleibt aus. In weiten Kreisen setze man auf die Schwierigkeiten des europäischen Einigungsprojekts, beschrieb die Neue Zürcher Zeitung die schweizerische Europapolitik. Das war schon in den 1960er Jahren so: Charles de Gaulle sei "der größte Schweizer", hieß es 1963 in der Arbeitgeber-Zeitung, nachdem der französische Präsident den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der heutigen EU, verhindert hatte. Das entlastete die Schweiz von dem Druck, eine Teilintegration in eine wachsende europäische Gemeinschaft zu suchen. Inzwischen hat sich die EU den Lissabon-Vertrag verpasst, sich selbst politisch und das EU-Parlament legistisch gestärkt. Dieses hat künftig ebenfalls ein Mitentscheidungsrecht, wenn es um Vereinbarungen zwischen Bern und Brüssel geht.
Bilateralismus
Die einzige direkt gewählte EU-Institution brachte heuer etwa das Abkommen mit den USA über den Austausch von Bankdaten (SWIFT-Abkommen) aus Gründen des Datenschutzes der Bürger zu Fall. Laut Carl Baudenbacher läuft die Beziehung der Schweiz zu Europa auf einen EWR-ähnlichen Bilateralismus hinaus. Denn die EU verlangt die Schaffung von Mechanismen zur Überwachung und gerichtlichen Kontrolle der bilateralen Verträge. Diskutiert wird u. a. die Unterstellung unter die Zuständigkeit des Efta-Gerichtshofs. Dessen Präsident ist - Carl Baudenbacher.
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