"Nur wer träumt, kommt voran"

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Die Furche: Wie haben Sie Martin Luther King 1963 wahrgenommen?

Hildegard Goss-Mayr: Ich habe ihn damals sehr konkret wahrgenommen, denn ich habe zu der Zeit in Lateinamerika gearbeitet. Wir haben dort gegen die Diktaturen gewaltfreien Widerstand aufgebaut - da war uns die Arbeit von King natürlich ein großes Vorbild. Für mich war - vom Glauben her gesehen - ganz wichtig, dass Martin Luther King die Bergpredigt nicht als Utopie verstanden hat, sondern die Gewaltfreiheit Jesu, die dort zum Ausdruck kommt, als Kraft zur Überwindung von Unrecht hier und heute - bis zu den Strukturen, d.h., dass er gegen ungerechte Gesetze, in diesem Fall die rassistischen Gesetze, gearbeitet hat, bis sie überwunden waren.

Das zweite, was für meine Arbeit ganz wichtig war, war, dass King zur Überwindung von Unrecht in Richtung einer "doppelten Befreiung" gearbeitet hat, einerseits der Befreiung der Opfer - das waren in Amerika natürlich die Schwarzen - und andererseits in Richtung der Befreiung der Täter: Seine Aktionen waren immer darauf ausgerichtet, auch die "andere" Seite zu überzeugen, dass Menschenrechte zu wahren sind, dass Rassismus überwunden werden kann. Das allein hat dann die Grundlage für die Möglichkeit der Versöhnung gegeben.

Die Furche: Gab es auch konkrete Zusammenarbeit mit King?

Goss-Mayr: Wir haben Mitarbeiter von Martin Luther King für unsere Arbeit in Lateinamerika eingeladen. Sie haben uns dort durch ihre Erfahrung geholfen, mit Schulungen den gewaltlosen Widerstand in Lateinamerika, die Bewegung "Servicio Paz y Justicia", aufzubauen.

Ganz wichtig war die Arbeit von Martin Luther King auch im Hinblick auf meine Erfahrungen in Afrika, etwa in Madagaskar oder im Kongo. Für die Schwarzafrikaner ist King als Schwarzer ja ein ganz großes Vorbild, wenn sie sich bemühen, in ihren Ländern für Gerechtigkeit zu arbeiten. Wenn ich dort hinfahre, nehme ich immer einen Dokumentarfilm über King mit, um den Menschen zu zeigen, wie dieser Kampf vor sich gegangen ist. Es ist eine ganz große Ermutigung für sie zu sehen, dass gerade einer von ihnen diesen Weg vorzeigt.

Die Furche: Hat sich in Bezug auf Martin Luther Kings "Traum" von Gerechtigkeit in den vergangenen 40 Jahren etwas verbessert?

Goss-Mayr: Wir haben heute eine ganz andere Situation. In vielen Teilen der Welt ist Gewalt wieder neu und in neuer Weise aufgebrochen. Andererseits glaube ich, muss man auch sehen, dass Gewaltfreiheit heute als Weg zur Überwindung von Unrecht überall doch als konkreter Weg und als ein Weg, den man anstreben soll, wahrgenommen wird - was vor 50 Jahren noch nicht der Fall war. Ich denke auch an das, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt wurde, zuerst durch Gandhi und King, dann in der DDR, in Polen, auch auf den Philippinen, zum Teil auch in Lateinamerika, wo Diktaturen gewaltfrei überwunden wurden. Diese geschichtlichen Erfahrungen werden aber nicht genügend gewertet. Es wäre dringend nötig, diese Erfolge bewusst zu machen.

Die Furche: King nennt seine Vision von Gleichheit und Gerechtigkeit einen "Traum". Ist es wichtig, zu träumen?

Goss-Mayr: Ich fand es sehr wichtig, dass King sagte: Wer nicht träumt, wer kein Vorbild hat, auf das er hin lebt, der kommt nicht voran. Deshalb sollen wir diesen Traum wirklich wach halten.

Die Furche: An Martin Luther Kings Weg beeindruckt, welche verändernde Kraft da durch diesen Weg der Gewaltlosigkeit entstanden ist...

Goss-Mayr: ... vor allem in den Menschen! Wenn man bedenkt, dass die meisten Mitarbeiter von King ja ganz einfache Menschen waren. Diese Leute waren nicht die großen Kirchenführer, sondern das war das einfache Volk. Nicht einmal von der eigenen Kirche wurde King offiziell unterstützt. Es war wirklich eine Volksbewegung und es zeigte, welche Kraft im Menschen liegt, wenn jemand da ist, der das Charisma hat, das in Bewegung zu bringen.

Die Furche: Wie haben Sie Kings Traum in Afrika wach gehalten?

Goss-Mayr: 1993 waren wir in Ruanda - eingeladen von "Iustitia et Pax", einer kirchlichen Kommission, die sich für die Arbeit für Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit einsetzt. Es gab also bereits Erfahrungen. So kamen wir zum Schluss, dass ein groß angelegter öffentlicher Versuch gemacht werden muss, um die ethnischen Schranken zwischen Hutu und Tutsi zu durchbrechen. Wir haben gemeinsam für den 1. Jänner 1994 eine Veranstaltung im Stadion von Kigali geplant. Man präsentierte dort, wie Martin Luther King, den Traum von Gerechtigkeit. Das war ein großer Anfang.

Die Furche: Aber der gewaltlose Widerstand scheiterte in Ruanda!?

Goss-Mayr: Wir sind zu spät gekommen, gewaltfreier Widerstand muss systematisch aufgebaut werden. Das war, vier Monate vor dem Genozid, nicht mehr möglich. Wir waren aber noch ein paar Mal dort. Die Arbeit wird zur Zeit von einer Gruppe fortgeführt, die eine Zeitschrift für Gewaltfreiheit herausgibt: "Der Preis, der für den Frieden zu bezahlen ist". Es gibt auch ein Buch, das in der ganzen Region Verbreitung findet: "Aktive Gewaltfreiheit wagen - Eine Kraft im Dienst des Friedens".

Die Furche: Gibt es ein "Erfolgsmuster" für gewaltfreien Widerstand?

Goss-Mayr: Es treten nur Menschen an uns heran, die in schweren Konfliktsituationen auf gewaltfreie Arbeit setzen. So hatte der Versöhnungsbund im Kongo eine lange Tradition. Mein Mann wurde in den achtziger Jahren eingeladen. Diese Leute haben vor allem in der Mobutu-Diktatur sehr viel gewagt. Mein Mann hat etwa in der Stadt Lubumbashi gearbeitet. In den letzten Jahren sind im Kongo rund zwei Millionen Menschen bei bewaffneten Konflikten ums Leben gekommen. Es war und ist sehr schwer, im Kongo Friedensverträge durchzusetzen.

In Lubumbashi wurde aber gewaltfreier Widerstand von einer Gruppe kultiviert, die auch von meinem Mann belebt wurde. In den neunziger Jahren brach dort der Kupferabbau zusammen. Die Leute, die von anderen Provinzen in die Region gekommen waren, sollten vertrieben werden. Der Gouverneur befürchtete große Massaker. Die gewaltfreie Gruppe ist zu Führern der Christen und der Muslime gegangen und sagte: Ihr müsst öffentlich Stellung nehmen! Sagt, dass das Leben jedes Menschen heilig ist, dass Allah, der Gütige, das genauso verlangt wie der Gott der Christen. Es gelang zu überzeugen: Wo die religiösen Führer das Töten und die Massaker verurteilten, konnten diese verhindert werden. Das ist ein kleiner, aber konkreter gewaltfreier Beitrag zur inneren Versöhnung im Kongo - von einer Gruppe mit vielleicht 100 Mitgliedern.

Das Gespräch führten Agathe Gansterer und Andreas Landl.

Vor 40 Jahren, am 28. August 1963, hielt Martin Luther King in Washington vor 250.000 Menschen seine berühmte Rede "I have a dream". Die Vision einer gerechten und freien Gesellschaft, wie sie King entwickelte, inspirierte auch die Friedenskämpferin Hildegard Goss-Mayr bei ihren weltweiten Einsätzen für gewaltfreie Konfliktlösungen.

Weltweites Engagement für Gewaltlosigkeit

Als Martin Luther King in den USA die schwarze Bürgerrechtsbewegung anführte, war Hildegard Goss-Mayr schon längst als gewaltfreie Kämpferin um Gerechtigkeit unterwegs. Die 1930 in Wien geborene Ehrenpräsidentin der christlichen Friedensbewegung "Internationaler Versöhnungsbund" zählt mit ihrem Mann Jean Goss zu den Wegbereitern der Gewaltlosigkeit. Nach dem 2. Weltkrieg setzte sich das Ehepaar Goss für Versöhnung in Europa, insbesondere die deutsch-polnische Aussöhnung ein. Beim II. Vatikanum erreichten sie durch unermüdliches Lobbying die Aufnahme des Anliegens der Gewaltlosigkeit ins Konzilsdokument "Gaudium et Spes". Intensive Arbeit in den Diktaturen Lateinamerikas und die Vorbereitung der gewaltfreien "Rosenkranzrevolution" auf den Philippinen 1986 machten den gewaltfreien Weg weltweit bekannt. Nach Jean Goss' Tod 1991 setzte Hildegard Goss-Mayr ihr Engagement vor allem in Afrika fort: 1991-93 begleitete sie in Madagaskar den Widerstand gegen das Regime Ratsiraka und engagiert(e) sich in Ruanda ebenso wie im Kongo. Zweimal wurde Hildegard Goss-Mayr, die in Wien lebt, für den Friedensnobelpreis nominiert, 1991 erhielt sie in Japan den beinahe ebenso renommierten Niwano-Friedenspreis. ofri

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