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Schnittstellen von Literatur und Religion.

An zwei Punkten berühren Literatur und Religion einander: in ihrem ethischen Anspruch und an jener Stelle, die über die sprachlich intellektuelle Erfassbarkeit hinausgeht.

Die Literatur (wie alle Kunst) handelt nicht vom abstrakten Menschen als einer bestimmten Funktion, sondern vom Menschen in seiner jeweils unverwechselbaren Einzigartigkeit und von seiner hartnäckigen Frage nach Transzendenz, nach allem, was sich dem analytischen Verstand entzieht. Es ist das Paradox der Kunst, dass sie ganz konkret ist, immer vom Einzelfall ausgeht, und gleichzeitig jeden, der eine Antenne für sie hat, anspricht, als rede sie nur zu ihm allein. Die Kunst instrumentalisiert den Menschen nicht, sie drängt sich nicht auf und zwingt zu nichts.

Zeugnis der Literatur

Nicht nur der Mensch ist ein dialogisches Wesen, das ununterbrochen Zeugnis ablegen möchte, auch der Literatur - (und der Religion) - wohnt dieses Dialogische inne, auch sie legt Zeugnis ab: von Erfahrungen, von Erschütterungen, von der aus ihnen gewonnenen Erkenntnis. Die Begegnung mit Literatur vollzieht sich nicht in der Analyse, sie zeitigt keine theoretische Erkenntnis, sie bedarf keines Vorwissens und keines intellektuellen Zugangs, sie unterliegt denselben dialogischen Gesetzen, die eine zweckfreie Interaktion zwischen Menschen ausmachen. Diese von jeder Instrumentalisierung freie, empathische Hinwendung zum Anderen, dessen Wert sich in seinem Menschsein ausreichend legitimiert, entspricht dem ethischen Imperativ, der im Zentrum der meisten Religionen steht.

Raum für das Individuum

Sowohl Literatur als auch Religion sind in ihrer geradezu intimen Privatheit zugleich öffentlich. Indem die Literatur von und zu Einzelnen spricht, erreicht sie viele, aber nicht als konsumierende Masse, sondern als Individuen, die sie anspricht und deren noch nicht formulierte Fragen sie beantwortet. Sie schafft Raum für die Vorstellungskraft und die Phantasie, für das Mögliche, das Uneingelöste in jedem Leben. Die Begegnung mit der Kunst, der Literatur, ist weder reglementierbar noch berechenbar, und sie ist frei von jeder Kosten-Nutzen-Rechnung. Die Bedeutung der Literatur wird nicht vom Konsumverhalten eingelöst, ebensowenig wie der Wert des Menschen von seiner wirtschaftlichen Nutzbarkeit abhängt.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir sparsam geworden mit dem Vokabular von Humanität und Ewigkeit. Die großen Wörter, die bedeutsamen Sätze haben den Verbrechen und Katastrophen des Jahrhunderts nicht standgehalten. Deshalb ist uns für Vieles im Bereich der Spiritualität die Begrifflichkeit abhanden gekommen, und vielleicht ist das gut so. Die Erkenntnis, die uns die Literatur - und die Religion - einträgt, bedarf der Begrifflichkeit nicht unbedingt. Was in der Begegnung zwischen Individuum und literarischem Kunstwerk wirklich vor sich geht, gehört zu den Geheimnissen, die weder analysierbar noch voraussagbar sind. Es kann die Gesellschaft zwar nicht verändern, aber es gehört dennoch zu den tiefgreifenden Erfahrungen. Ein Kunstwerk, das uns auf diese Weise erfasst, enthält einen unsagbaren Kern, der über das Werk hinausweist und seine Aussage auf der sprachlichen und inhaltlichen Ebene transzendiert. Darin besteht seine Gültigkeit über die Zeiten hinweg. Es ist etwas, das uns ergreift, weil es uns die menschliche Existenz in ihrer Abgründigkeit und ihren Möglichkeiten zeigt, ohne den Umweg über Erklärungsversuche und Analysen nehmen zu müssen, die zeitverhafteten Irrtümern unterliegen.

Diskursiv nicht mitteilbar

Es gibt die beschreibbaren Formen, in der Literatur und auch in der Religion: die Sprache, die Inhalte, die Gattung und ihre inhärenten Regeln bzw. die Liturgie, die Vorschriften, die Gebete. Nur in der dialogischen Begegnung füllen sie sich mit individueller Bedeutung, die potenzielle Erkenntnis enthält und über das Sagbare hinausweist, ohne diese Partizipation würden sie äußerlich und bedeutungslos bleiben, sind sie doch nur Vehikel. Das, was in der Begegnung offenbar wird, sind nicht die äußeren Formen, sondern die diskursiv nicht mitteilbare Erkenntnis, was wir hier in diesem Leben, auf dieser Welt überhaupt machen, wozu wir hier sind.

Die Autorin lebt in Linz; zuletzt erschienen die Romane "Haus der Kindheit" und "Familienfest".

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