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Das Wachsen der nationalen Identität zwischen Regionalismus und Europabewusstsein. Jubiläen bieten Gelegenheit zur Rückschau auf den zurückgelegten Weg, zur kritischen Überprüfung markanter Weichenstellungen. Wegen der weltpolitischen Veränderungen verlangen Österreichs Errungenschaften von 1945, 1955 und 1995 einer neuen Deutung und Einordnung - und so gewinnt auch das Jubiläumsjahr 2005 seinen tieferen Sinn erst im Blick auf die Gegenwart und Zukunft. Dieses Dossier ist mit finanzieller Unterstützung des Bundeskanzleramtes entstanden. Redaktion: Cornelius Hell und Wolfgang Machreich.

Ob das Europabewusstsein in Österreich schwächer ausgebildet ist als in anderen europäischen Staaten, ist kaum seriös zu beantworten. Zustimmungsraten in Umfragen sind stark von den jeweiligen Fragestellungen und zufälligen politischen Konstellationen abhängig. Auch dass die Euphorie für Europa in Österreich seit 1995 deutlich abgenommen hat, sagt nicht wirklich viel über die Identifizierung mit Europa aus, nicht nur deswegen, weil die Österreicher wie wohl alle Menschen gern über das jammern, was sie lieben. Zu unterscheiden ist nicht nur zwischen der EU als Institution und Europa als kultureller Idee, sondern auch zwischen der Kritik an verschiedensten Missständen und dem generellen Streben nach Stabilität und Frieden.

Der Österreicher ist in Doppel- und Mehrfachzuordnungen und Identitäten geübt. Zuerst einmal ist er Wiener, Steirer, Tiroler oder Vorarlberger und lange danach erst Österreicher. Lange Zeit, und das gilt mit gewissen Einschränkungen noch immer, hat er sich auch als Deutscher verstanden. Und Europäer ist er sowieso.

Österreich war die längste Zeit seiner Geschichte ein höchst unbestimmter Raum, der nur aus der späteren Geschichte definiert ist. Bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie wusste man nicht wirklich, was man unter Österreich zu verstehen habe: ob die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der Enns oder die österreichische Reichshälfte der Habsburgermonarchie, für die man amtlich den recht komplizierten Namen der "im Reichrate vertretenen Königreiche und Länder" gebrauchte und salopp auch "Cisleithanien"; oder doch das gesamte Herrschaftsgebiet der Habsburger, das man zwischen 1804 und 1867 als Kaisertum Österreich bezeichnet hatte und für das man zwischen 1867 und 1918 recht unglücklich die Formulierung Österreich-Ungarn gebrauchte, was allen anderen Teilen, von Böhmen bis Kroatien, die Identität entzog, wenn man sich nicht überhaupt auf den Nicht-Namen k.u.k. zurückzog.

Ostarrichi oder Austria

Das Wort Ostarrichi, das im 10. Jahrhundert aufkam und in lateinischer Form richtigerweise als "oriens" (Osten) übersetzt wurde, bezeichnete die Lage im Osten. Die im 12. Jahrhundert neu aufkommende latinisierte Version "Austria", die schon im 8. Jahrhundert gelegentlich für die Ostteile des Frankenreiches verwendet worden war, sollte bis in die Gegenwart herauf noch viel Verwirrung stiften, steckt doch im Wort Austria eine germanische Wurzel "austr", die Osten bedeutet, während das lateinische "auster" eindeutig den "Süden" meint und so eine bis heute weltweit zu beobachtende Verwechslungskomödie zwischen dem "Ostland" Austria und dem "Südland" Australia hervorgerufen hat.

Viele Identitäten

Österreich hat viele Identitäten. Es hat für einen Kleinstaat unverhältnismäßig viel Geschichte zu verwalten: Die Kronen und Schätze mehrerer Reiche, Archive, die weit über das heutige Staatsterritorium hinausführen, Museen und Kulturgüter, die in einem Großstaat zusammengetragen wurden, und eine imperiale Prachtstraße mit öffentlichen Gebäuden, die für die Regierung von 30 bis 50 Millionen Menschen errichtet wurden, auch wenn sie heute dennoch viel zu klein sind.

Zum habsburgischen Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging, hat das heutige Österreich keinen realen Bezug. Auch die Habsburger, die vor Jahrzehnten für die einen noch ein Objekt vehementer Ablehnung, für die anderen das Ziel einer vergeblichen Restauration waren, sind zum bloßen Gegenstand der Nostalgie geworden. Aber auch der Gründung der Republik und der Entstehung des österreichischen Nationalstaats im Jahre 1918 fehlte die Euphorie des Neubeginns. Das neue Österreich war der Staat, den keiner wollte, den man für nicht lebensfähig hielt und den man für den Verlust des einstigen ökonomischen und sozialen Prestiges verantwortlich machte.

Erst die Erfahrungen mit dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland führten zu einer vermehrten Identifizierung mit Österreich. Dass es 1945 und in den nachfolgenden Jahren den österreichischen Politikern gelungen war, dem Land eine Teilung wie in Deutschland oder ein staatswirtschaftlich-kommunistisches Schicksal wie in den ostmitteleuropäischen Ländern zu ersparen, legte die Grundlagen für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, auch wenn sich das Land immer noch sehr schwer tut, seine Identität zu verteidigen und ein offenes Verhältnis zu seiner Geschichte zu finden.

1945 und 1955

Es war der Tscheche FrantiÇsek Palack´y, der 1848 gefordert hatte, man müsste Österreich erfinden, würde es nicht schon existieren. Österreichs Erschaffung und "Erfindung" war eine langwierige Angelegenheit, von der ersten Erwähnung des Namens "Ostarrichi" im Jahr 996 im Zusammenhang mit einem schmalen Landstrich im Alpenvorland zwischen Enns und Traisen, über das Land Österreich des Hochmittelalters, im wesentlichen das heutige Niederösterreich mit Teilen Oberösterreichs, die spätmittelalterliche habsburgische Herrschaft zu Österreich und dann das Haus Österreich, unter dessen Herrschaft die Sonne nicht unterging.

"Draußen im Reich"

Die Definition der Österreichischen Monarchie Karls VI., Maria Theresias und Josephs II. war unscharf. Einerseits sah man sich als Vormacht des im Todeskampf liegenden Heiligen Römischen Reiches, andererseits verwendete man bereits häufig die Formulierung "draußen im Reich", obwohl dessen Kaiser in Wien residierte. Aber auch mit der Proklamation des Kaisertums Österreich im Jahre 1804 und der Sistierung des Römisch-Deutschen Reichs 1806 waren die Doppelzuordnungen und unscharfen Abgrenzungen nicht zu Ende. Teile der Habsburgermonarchie waren Mitglied im Deutschen Bund, andere nicht. Victor Freiherr von Andrian-Werburg schrieb 1841 in seinem "Österreich und dessen Zukunft" von Österreich als einem "rein imaginären Namen". Ein spezifisch österreichisches Nationalbewusstsein hatte sich in der Habsburgermonarchie im Unterschied zur tschechischen, ungarischen, polnischen, ruthenischen oder slowenischen und kroatischen Nationalität nicht bilden können. Die Deutschsprachigen verstanden sich als Deutsche.

Probleme mit den Namen

1866 schied die Habsburgermonarchie zwar endgültig aus dem Deutschen Bund aus, doch wurde mit der österreichisch-ungarischen Monarchie ein neues Zwitterwesen geschaffen, von dem niemand wusste, ob es ein, zwei oder mehrere Staaten sein sollten. Und mit der Republik Österreich, von der man sich am Anfang scheute, ihr den Namen Österreich zu geben, war es nicht anders: bereits im zweiten Absatz der Proklamation Deutschösterreichs im November 1918 war ihre dann doch nicht vollzogene Selbstauflösung formuliert: "Deutschösterreich ist ein Teil des Deutschen Reiches."

Die starke Dynastiebezogenheit des Österreichbegriffes wurde 1918 beim Übergang vom "Reich" zur "Republik" zum Problem. Dem neuen Kleinstaat wie auch seinem Namen stand man mit großer Skepsis gegenüber, was an den zahlreichen Vorschlägen für die Benennung zum Ausdruck kam, von "Deutschösterreich" über "Ostmark", "Osterland" und "Norikum" bis "Alpenland". Das satirische Periodikum "Götz von Berlichingen" hatte 1919 statt Deutschösterreich gar "Operettanien" als neuen Namen vorgeschlagen. Um den Namen Österreich nicht gebrauchen zu müssen, schreiben deutsche Medien bis heute häufig von der Alpenrepublik und meinen damit nicht die Schweiz, sondern Österreich, das viel weniger deutlich von den Alpen dominiert ist. Eingefleischte Republikaner störte das Monarchisch-Habsburgische an Österreich. Die Anschlussbefürworter wiederum wollten kein zweites "Reich" neben dem "Deutschen Reich".

Ergebnis einer Niederlage

Österreichs Staatsgründung 1918 litt lange darunter, nicht das positiv interpretierbare Ergebnis einer nationalen Einigungsbewegung oder eines großen Sieges, sondern das Ergebnis einer Zerschlagung und einer Niederlage zu sein. Das fatale Wort des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau ist oft zitiert worden: der Rest ist Österreich. Otto Bauer hatte 1937 über die österreichische Nation als einem "aus Katholizismus, Habsburger-Tradition und feudaler Barockkultur zusammengebrauten Spuk" gehöhnt und noch nach dem Anschluss einer vom österreichischen Widerstand angestrebten Losreißung vom Reich eine gesamtdeutsche sozialistische Revolution gegenübergestellt.

Patriotismus beginnt 1945

Erst als nach dem Anschluss 1938 und mit dem Ostmarkgesetz vom 14. April 1939 der Name Österreich völlig ausgelöscht und in weiterer Folge mit dem Verbot der Bezeichnung Ostmark jegliche Erinnerung an ein eigenständiges Staatsgebilde im Alpenraum getilgt werden sollte, erweckte dies die Liebe zum Namen Österreich. Die Liebe zum Anschluss war den Österreichern gründlich ausgetrieben worden. Erst seit 1945 bekennen sich die Österreicher mehrheitlich zu ihrer Nation. Und seither gibt es die österreichische Nation auch als eine von allen politischen Seiten anerkannte Staatsdoktrin.

Österreich als Staat ist sehr jung. Österreich - das sind eigentliche seine Regionen, die Länder, die den Bundesstaat formen, die Steirer, die Kärntner, Tiroler, Vorarlberger etc. Und es sollte einige Zeit und einige traumatische Erfahrungen lang dauern, bis Österreich wirklich zu einer Identität zusammengewachsen war. Auch bei Europa ist es nicht anders - es sind in Wirklichkeit seine Regionen. Und es wird lange dauern, bis die vielen Staaten zu einer wirklichen Identität zusammenwachsen, zumal durch den raschen Prozess der Erweiterung zwar einerseits viel Dynamik entstanden ist, andererseits aber auch manche Unsicherheit, die den Prozess der Identitätsbildung erschwert.

Das Wunder Europa

Österreich wurde oft als Modell für Europa gesehen. Der Habsburgermonarchie mit ihren mindestens elf Sprachen und Nationalitäten, mit ihren komplizierten politischen Institutionen und ihrem gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum können gewisse Ähnlichkeiten mit der EU zugeschrieben werden. Das mag als gefährliche Drohung verstanden werden. Man kann aber auch daraus lernen. Das Konzept der Paneuropa-Bewegung wurde auf dem ehemaligen Territorium der Habsburgermonarchie und aus den Erfahrungen damit entwickelt.

Österreich liegt in Europa. Aber längst wissen wir, dass auch Europa ein höchst unbestimmter Begriff ist. Österreich verstand sich immer wieder als Bollwerk, von der Abwehr der osmanischen Expansion bis zur Lage am eisernen Vorhang. Österreich versteht sich aber auch gern als Mitte und Herz Europas: "... liegst dem Erdteil du inmitten ..." Österreich liegt in Mitteleuropa. Aber Mitteleuropa hat noch weniger als Europa jemals einen geografisch eindeutig festlegbaren Raum bezeichnet: Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, Zentraleuropa oder Europa der Mitte sind Schlagworte. Österreich bezieht ein Gutteil seiner Kraft aus dieser Idee der Mitte, des Zentrums und des Ausgleichs, in fast narzisstischer Selbstverliebtheit zu allen Mittelwegen und jeglicher Einebnung der Extreme. Sich in der Mitte zu positionieren, war und ist der Traum vieler Länder, der Deutschen ebenso wie der Tschechen oder auch der Chinesen, die ihr Land "Reich der Mitte" zu nennen pflegen. Es ist nicht nur schwer bestimmbar, wo geografisch und kulturell die Grenzen Europas verlaufen, sondern wohl auch, wo dessen Mitte liegt.

Das "Wunder Österreich", das von so vielen Klischees, von den Phäaken und Verschwendern, vom walzerseligen Musikland, von den gescheiterten Revolutionären und ewigen Raunzern bis zum "langen Schatten des Staates" begleitet ist, erscheint mit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit verwirklicht. Das "Wunder Österreich" aber ist, und das sollte immer bewusst bleiben, Teil des "Wunders Europa".

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