"Ohnemichels" spätes Lebenszeichen

Werbung
Werbung
Werbung

Wie der ehemalige Hitlerjunge Gerhard Amanshauser zu seiner Verweigerungshaltung kam: Nicht-Reflexion als Lebensprogramm?

Als Barbar im Prater" nennt Gerhard Amanshauser sein neues Buch. "Autobiographie einer Jugend": Der Untertitel provoziert die Frage, ob sich die Jugend des Salzburger Autors hingesetzt und unter Umgehung des lebenden Amanshauser selbst beschrieben habe. Hat man das schmale Buch gelesen, stellt man fest, dass der Untertitel den Inhalt treffend charakterisiert. Der Autor scheint mehr von sich selbst preiszugeben, als ihm bewusst ist. Tatsächlich handelt es sich um die Selbstdarstellung einer Haltung, die so weit verbreitet ist, dass man von einer Mentalität sprechen kann, einer sehr typischen Mentalität.

Als Barbar im Prater? Doch nicht etwa, weil sich der junge Mann aus Salzburg im großstädtischen Wien einer barbarischen Provinzialität bewusst wird, was bei einem Salzburger nun wirklich zuviel der überschießenden Selbsterkenntnis wäre? Doch bevor wir auf die Uniform eingehen, in der er durch den Wurstelprater geht, muss der Rezensent bekennen: Seine Haltung bei der Lektüre war nicht die übliche, mäßig neugierige, freundlich distanzierte des Kritikers, sondern eine dialogische.

Typische HJ-Jugend

Anders kann es ja gar nicht sein, wenn es sich bei der "Autobiographie einer Jugend" um eine durch und durch politische handelt. Wenn der Mensch, dessen Jugend sich da rechtfertigt, am 2. Jänner 1928 geboren wurde, und der Rezensent am 30. Dezember 1927. Wenn also ganze drei Tage zwei Biographien trennen - zugleich aber Welten. Wenn zwei Österreicher in Österreich die Kriegs- und Nachkriegszeit gar nicht verschiedener erlebt haben können.

Wie typisch die österreichische Jugend ist, die Amanshauser beschreibt, wurde mir beim Lesen paradoxerweise immer dann besonders bewusst, wenn ein Abschnitt, ein Absatz, ein Satz wie das Zeugnis eines mir exotisch erscheinenden Lebens auf mich gewirkt hatte. Ich habe das alles natürlich gewusst, emotional mich darauf aber wohl schon lang nicht mehr eingelassen. Aber wenn ein durchaus antinazistisch, demokratisch und human eingestellter Schriftsteller aus gehöriger innerer Distanz seine Jugend als tüchtiger Hitlerjunge im Schoße einer nur schwach mit nazikritischen Ansichten durchschossenen Familie beschreibt, kommt man um eine maßvolle Alter-ego-Reaktion beim Lesen einfach nicht herum.

Zurück zum Barbaren im Prater. Leserin und Leser haben längst erraten, dass die Uniform, in welcher der junge Gerhard durch den Wiener Wurstelprater schritt, jene der Hitlerjugend war und das Gefühl von Barbarei im Rückblick auf jene Situation projiziert wurde. Eine Art retrospektives Aha-Erlebnis. Alter ego: Der um drei Tage ältere Rezensent hatte eines seiner entscheidenden politischen Aha-Erlebnisse auch im Prater, auch in der Nazizeit, und zwar an einem Sonntagvormittag nach dem gemeinsamen Besuch eines Fußballspiels im Wiener Stadion, es könnte im Frühjahr des Jahres 1941 gewesen sein. Der jüngere Mann im offenen hellen Regenmantel ging eilig an uns drei Hitlerjungen vorbei, der Mantel war zurückgeschlagen, aber nicht genug, um nicht ein kleines Eck des Judensterns hervorlugen zu lassen. Am Beginn des kurzen Weges, den er hastig passierte, stand: "Durchgang für Juden verboten". War dies die Geburtsstunde meines politischen Denkens? Nein, ich hatte bereits früher die glosende Synagoge auf dem Mittersteig in Margareten gesehen und den mit einem Gefäß herumwerfenden Pöbel gröhlen gehört: "Schaut's, der Nachttopf von der Sarah!"

Wer damals als Heranwachsender in Wien herumstreunte, dem waren halt vielleicht doch etwas andere prägende Erlebnisse vergönnt als jene, die Salzburg zu bieten hatte. Im Hitlerjungen Amanshauser war die ursprüngliche, spontane Hinwendung des Kindes zum Fremdartigen, Gauklerischen, zu Artisten und fahrendem Volk vorübergehend begraben. Wie bekannt mir diese spontane Hinwendung zum Fremden vorkommt. Und zum Geheimnisvollen: Ein angesengtes Eckchen Papier mit hebräischen Buchstaben vom verbrannten Tempel bewahrte ich noch lange auf. Außerdem hatte ich Glück. Amanshauser war in der Hitlerjugend als Sohn eines kleineren Salzburger Bonzen mit allerhand Bonzenfreunden ein Führer, wenn auch kein großer. Mir konnte die Hitlerjugend nicht schaden, denn ich war verträumt und unsportlich und, bevor ich mich unauffällig von ihr empfahl, ein ausgesprochener Underdog.

Das eigentliche Alter ego des Führers ist der Underdog. Und Underdogs sehen die Welt immer und überall aus einer anderen Perspektive als die Führer. Irre ich mich, oder macht es in Amanshausers Buch, so unbarmherzig er mit seiner Familie und seiner eigenen HJ-Vergangenheit auch rechtet, nicht doch tatsächlich da und dort diskret Kikeriki ob seines Hitlerjugend-Führertums und ob seiner sportlichen Leistungen? Beim Bonzen-Papa eines seiner Jugendfreunde dürfte er sich übrigens vertan haben: "Pegus" war wahrscheinlich der aus den Diensten des Negus zurückgekehrte Otto Begus. Seine Erinnerung, dass man die Panzerfaust hinten anzündete, statt den Abzug zu betätigen, wundert mich mehr. Dabei war doch er der am Gerät ausgebildete Wehrertüchtigte und ich der für die Wehrmacht nicht existente Abgetauchte. Aber ich musste halt immer schon alles Lesbare lesen. Auch die Anleitungen in den Deckeln der noch nach der Befreiung herumliegenden offenen Kisten mit Panzerfäusten.

Doch dies wirklich nur am Rande. Beschreibt Amanshauser doch am Beispiel seiner Familiengeschichte, von innen gesehen und dabei mit kühler, ironischer Distanz, den Weg des Salzburger Bürgertums in den Nationalsozialismus. Salzburger Bürgertum: Irgendwie auf halbem Weg zwischen Wien und Tirol. Wien mit seinem Proletariat, dem die rote Tradition einen um Spuren besseren Impfschutz bietet als die versunkene k.u.k. Herrlichkeit dem verelendeten Bürgertum. Und dem bäuerlichen Tirol, wo die Kirche denen, die nach ihm greifen, Halt gegen den Ungeist bietet. Nicht ganz so national wie Kärnten seit Menschengedenken. Amanshauser taucht uns in die heute kaum mehr vermittelbare Welt des deutschnational denkenden Kleinbürgertums, das für den Nationalsozialismus nicht erst gewonnen werden musste, weil er ihm selbstverständlich war.

Die kühle, ironische Distanz dürfte er früh entwickelt haben. Folge einer einsamen Kindheit und der Kälte im Elternhaus. Die Schwiegereltern im Obergeschoß halten sich für etwas Besseres und blicken auf den Vater im Erdgeschoß, den "Proleten", herab. Was der Wandervogel-Eltern höchstes Glück ist, stößt das Kind und den Jugendlichen ab. Er entwickelt den Blick von außen. An sich eine gute Voraussetzung, auch die großen Dinge zu durchschauen.

Typische Indifferenz

Ich kann dieses Buch also empfehlen. Amanshauser kennt sie gut, die andere Welt von gestern, über die er schreibt, die Gegenwelt von Stefan Zweigs "Welt von gestern". Es ist angenehm zu lesen. Es macht mir, so fremd mich das anmutet, irgendwie verständlich, dass ein Gleichaltriger, der alles andere als ein verbohrter Nazi war, tatsächlich erst in den letzten Phasen des Zusammenbruchs kapieren konnte, was gespielt wurde. Es führt alle Facetten einer zerrissenen österreichischen Familie vor Augen. Und es lässt überdeutlich die Grenzen erkennen, die Amanshausers Selbstreflexion nicht überwinden konnte und die er sich, so scheint es, nicht bewusst macht.

Er teilt diese Grenzen mit so vielen, dass man tatsächlich von einer politischen Mentalität sprechen kann. In dieser "Autobiographie einer Jugend" demaskiert diese sich selbst. Offenbar hält sich Amanshauser auf seine generelle Verweigerungshaltung viel zugute, ohne zu merken, wie viele Menschen aus ihrer unverdauten NS-Vergangenheit in solche Verweigerungshaltungen schlitterten. Seine Bilanz, lesen wir, sei eine "zutiefst anarchistische", aber die kann ich ihm nicht so recht glauben: Wie immer man zum Anarchismus steht, er ist eine Position auf der Basis politischer Reflexion und nicht politischer Indifferenz. Das Gegenteil politischer Indifferenz muss ja keineswegs der Eintritt in eine politische Partei sein. Einst politisch mehr oder weniger fanatisch engagiert, warfen sich gerade die "Ehemaligen" nun in Massen jeweils der Partei in die Arme, die ihnen am meisten bot.

Typische Fluchtpunkte

Derlei kann man Amanshauser wirklich nicht vorwerfen. Aber die Schlusskapitel zeugen von genau jener "Ohnemichel"-Haltung, die ab 1945 für so viele zum Vorwand wurde, sich einfach das Nachdenken über ihre Vergangenheit zu ersparen. Er trägt dieses Desinteresse auch noch zur Schau. "Wiederaufbau: Mit einem Minimum an Ausgaben schlägt man ein Maximum an Profit und Hässlichkeit heraus." Oder: "Zwanzig Jahre lang beobachtete ich das Wirtschaftswunder, ohne auch nur einen Finger zu rühren." Oder: "War also der Wiederaufbau eine Epoche? In gewisser Weise hat auch der Krebs einen Stil."

Wie dieser Salzburger Dichter die Beseitigung der von den Nazis hinterlassenen Verwüstung mit der Profitgier anschließender Phasen, wie er alle Schaurigkeiten einer öden Nicht-Architektur und alle Perversitäten unserer Warenwelt unter "Wiederaufbau" subsumiert, das ist schon ein (intellektuell hübsch verbrämtes) Meisterwerk der Nicht-Reflexion. An seinen Sätzen über die Zeit nach der Befreiung (die er durchaus als solche erlebte) verwundert mich vor allem das Fehlen von Neugierde und Offenheit, das Desinteresse am Kommenden. Er hat wahrscheinlich recht: Ein bösartiger Nazi wäre er auch nach dem "Endsieg" nie geworden, ein wirklicher Gegner aber wohl auch nicht so leicht.

ALS BARBAR IM PRATER

Autobiographie einer Jugend

Von Gerhard Amanshauser

Residenz Verlag, Salzburg 2001

176 Seiten, geb., öS 248,-/e 18,02

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung