Ohnmacht vor dem Fernseher

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Den "Anderen Bürger" lässt Goethe beim Osterspaziergang sein Sonntagsvergnügen verraten: Wenn hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen, am Fenster stehen und ein Gläschen trinken. Krieg als Unterhaltung, sofern er nicht nahe kommt. Fernsehen gab es noch nicht. Jetzt ist der Krieg nahe. Tote, Verwundete, Flüchtlinge, Zerstörungen werden vorgeführt. Der Krieg hat jeden Unterhaltungswert verloren.

Dreißig Jahre bevor Goethe seinen Faust publizierte, hatte Matthias Claudius sein "Kriegslied" geschrieben. Er brauchte kein Fernsehen, er wusste auch so, was Krieg bedeutet: "'s ist leider Krieg" sagt er ganz trocken, und dann die merkwürdigen eineinhalb Verse: "und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!"

Am Fernseher stehen, an diesem Fenster zur Welt, und sein Gläschen trinken, wenn hinten in der Türkei, im Libanon, in Israel, im Irak oder sonst wo "die Völker auf einander schlagen", sich aus der Verstrickung befreien, in die uns das Schicksal unbekannter Leidender, Weinender und Toter hineinzieht, ist unmöglich geworden. Matthias Claudius wusste es, und ihm drängte sich die Frage auf, ob diese Verstrickung nicht auch Mitschuld bedeutet? Er möchte nicht schuld daran sein, er war es auch nicht. Er wird die Frage dennoch nicht los.

Peter von Matt, der Zürcher Germanist, erinnert daran, dass gerade damals gesungen wurde: "Alle Menschen werden Brüder"; wenn das stimmt, "kann man sich aus der Schuld der anderen nicht einfach wegstehlen". Und was folgt daraus, wenn alle Menschen (wie Christen, Juden und Muslime glauben) Geschwister sind, weil sie einen gemeinsamen Schöpfer haben? Ohnmacht vor dem Fernseher, die Bitte um Lossprechung für nicht verschuldete Beteiligung. Mitwisser haben ihre Unschuld schon verspielt. Auch wenn sie die Kiste abdrehen, ändert das nichts daran.

Der Autor ist freier Journalist

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