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Auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen und des Renner-Instituts diskutierten vergangene Woche Jan KÇren, Historiker an der Prager Karls-Universität, Rainer Münz, Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin, Oliver Rathkolb, Co-Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in Wien, und die FAZ-Korrespondentin Eva Menasse unter der Leitung von Karl Schwarzenberg über die BeneÇs-Dekrete. die furche gibt auszugsweise die zentralen Aussagen wider.

jan kÇren: Die kritische Reflexion der eigenen Geschichte in Tschechien ist seit 1989 Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion geworden, und auch wenn die Bilanz nicht vollkommen gut ist, gibt es seit 12 Jahren eine solche Diskussion, und ich muss offen sagen: Jetzt ist sie wirklich gestoppt und vielleicht zurückgegangen. Meine zweite Sorge ist, dass die Zustimmung in der Öffentlichkeit für den Beitritt der Tschechischen Republik zu EU in Zusammenhang mit dieser Diskussion um 12 bis 16 Prozent gesunken ist, sodass heute nur 40 Prozent der Tschechen für den Beitritt sind. Und ich muss fragen, ob die Öffnung dieser Diskussion wirklich verantwortlich ist aus der Sicht der Osterweiterung der EU.

rainer münz: Ich denke, es ist ganz wichtig zu sehen: Die Vertreibung auch der Sudetendeutschen aus der wiedererstandenen Tschechoslowakischen Republik ist etwas, was mit der Zustimmung der damaligen Großmächte passiert ist und zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise völkerrechtskonform denkbar war. Wir müssen ganz klar sehen, dass sich an diesem Punkt unsere Vorstellung von Völkerrecht verändert hat. Dieselben Vertreibungen, wenn wir sie mit Blick auf Bosnien und das Kosovo sehen, sind heute Gegenstand von Verfahren, die vor dem Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrechen auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien in Den Haag abgehandelt werden. Das führt zur Frage: Soll man das, was 1945 passiert ist, retrospektiv auch als Vergehen gegen das Völkerrecht werten oder aus der damaligen Zeit? Und damit stellt sich auch die Frage: Sollen die Benes-Dekrete mit Blick auf das heute geltende Völkerrecht aufgehoben werden? Möglicherweise nicht mit Wirkung von damals, aber mit Blick auf heute - man könnte sie mit einer Geste für erloschen erklären. Ich persönlich würde das für eine Geste halten, die in unsere gegenwärtige Zeit passt.

oliver rathkolb: Leopold Figl sagte in einer Sitzung der Provisorischen Staatsregierung Renner vom 12. Juni 1945: "Optiert haben alle deutsch sprechenden Menschen in der Tschechoslowakei für Deutschland, daher sollten alle diese Leute nach Deutschland gehen und nicht nach Österreich." Die politische Linie 1945 war klar: zu versuchen, die Grenzen zu schließen; die Rote Armee wurde ausdrücklich wurde ausdrücklich aufgefordert, die flüchtenden vertriebenen Sudetendeutschen in das "Altreich" umzuleiten, und gleichzeitig wurde auch versucht, schon im Land befindliche Flüchtlinge wieder in die Tschechoslowakei zurückzubringen. Karl Gruber hat es beim ersten offiziellen Besuch eines Außenministers in der Zweiten Republik in Prag 1946 noch deutlicher gemacht - Gruber, der große Kämpfer für die Minorität in Südtirol: "Es waren Leute, die Ihnen immer Schwierigkeiten bereitet haben und sie jedem bereiten würden. Es ist natürlich, dass Sie sie loswerden wollen. Ich versichere Ihnen, dass ich und unsere gesamte Regierung dieses Problem in gleicher Weise beurteilen."

Interessant ist: Je heftiger die Auseinandersetzung um die nationalsozialistische Vergangenheit von Österreichern, die Frage des Holocaust zu einer gesellschaftlichen Diskussion wird - faktisch zeitgleich beginnt eine Debatte um die Vertreibung. Paradigmatisch dafür ist, dass Jörg Haider eigentlich kein Interview über den Holocaust und die Entschädigung in den letzten Jahrzehnten geführt hat, ohne auch gleichzeitig die Frage der Entschädigung für die Vertreibung zu thematisieren. So lange es nicht gelingt, diese beiden Diskussionsstränge auseinanderzuhalten und auf die Ebene der Frage zu bringen: Welche Bedeutung haben im unserer Gesellschaft individuelle Menschenrechte? und eine kritische Rückschau in die Zeit vor 1945 zu machen, wird diese Diskussion leider eher in eine Richtung gehen, wie sie Prof. KÇren skizziert hat.

eva menasse: Wir haben drei Spielpartner in der Problematik um die Sudetendeutschen: Österreich, Deutschland und die Tschechische Republik. Wenn ich mir psychologisierend-atmosphärisch diese drei Partner anschaue, dann finde ich sehr große Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Geschichte zwischen Österreich und der Tschechischen Republik, und einen ganz großen Unterschied zu dem Umgang mit der Geschichte in Deutschland. Österreich und Tschechien haben beide erst sehr spät begonnen, sich kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen - die Tschechische Republik gezwungenermaßen, weil diese Diskussion vor 1989 ja nicht möglich war, Österreich letztlich kaum früher, nämlich 1986, wo mit der Waldheim-Debatte das ganze "Verdrängte" aus dem Land hervorgebrochen ist und es wirklich "ans Eingemachte" gegangen ist. In diesem Sinn erstaunt es mich nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland der einzige Partner ist, der einen kühlen Kopf bewahrt, während sich in den letzten Monaten die beiden anderen befetzen. Beiden Ländern fällt es in der kurzen Zeit immer noch sehr schwer, sich mit den unangenehmen Seiten ihrer Geschichte zu beschäftigen, weil sie beide bequemerweise und verständlicherweise sich zu erst einmal als Opfer betrachtet haben.

karl schwarzenberg: Wer braucht die BeneÇs-Dekrete? Und wer missbraucht sie? Wo werden sie heute als politisches Instrument verwendet? Was ist ihre juristische Substanz? Darin ist ja nicht die Vertreibung enthalten, sehr wohl aber die Konfiskation des Vermögens und der Verlust der Staatsbürgerschaft. Die Vertreibung war ja bereits eine vorher beschlossene Sache - ein Vorgang, der sich während des Zweiten Weltkriegs in der Diskussion zwischen der tschechoslowakischen Exilregierung und der britischen Regierung entwickelte. Was ist nun die rechtliche Notwendigkeit, an den BeneÇs-Dekreten festzuhalten, und was wäre der Nachteil einer formalen Bestätigung, dass sie heute nicht mehr gültig sind?

kÇren: Es ist wirklich nicht gut, die Entschädigung der Juden und Zwangsarbeiter mit der Entschädigung der Vertriebenen gleichzustellen.

münz: Warum sollen wir die Restitution für die enteigneten Juden und die Abgeltung der Zwangsarbeit nicht mit der Enteignung der Sudetendeutschen vergleichen? Ist es denkbar, ein Eigentum, das aus unserer heutigen menschenrechtlichen und juristischen Sicht so nicht mehr enteignet werden könnte, zurückzugeben? Da stellt sich in der Geschichte immer die Frage: Wo ziehen wir die Grenze? Das ist ein Problem, das in der Tschechischen Republik deswegen so akut ist, weil Enteignungen, die 1947 passiert sind, sehr wohl noch in diese Periode hineinfallen, und für die Leute, die 1945-47 enteignet worden sind, ist es schwer zu verstehen, warum eine Enteignung von 1947 rückgängig gemacht werden kann und eine von 1945 nicht. Ich weiß, dass diese Frage eine Büchse der Pandora öffnet, aber man muss zumindest versuchen, eine Antwort darauf zu finden, und sei es auch nur zu sagen: Das ist willkürlich.

menasse: Ich glaube, es ist nicht willkürlich, und es geht auch nicht um die Grenzen, die wann gezogen worden sind, sondern es geht um die kausale Folge. Es geht darum, dass ein Jude, der enteignet oder ermordet worden ist, das sozusagen "aus heiterem Himmel" wurde, während ein Tscheche, der ziemlich sauer war, was den Tschechen während des Zweiten Weltkriegs widerfahren ist, ja noch in deutlicher Erinnerung hatte, dass fanatisierte Nazi-Anhänger unter den Sudetendeutschen gejubelt und Hitler begrüsst haben.

münz: Ich verstehe diesen Punkt, aber ich möchte trotzdem sagen: Die Vertreibung und Enteignung hat unabhängig davon stattgefunden, ob jemand ein Nazi oder Anti-Nazi war. Es gab Leute, die 1945 aus dem KZ zurückgekommen sind, restituiert wurden und wenige Wochen später wieder alles verloren haben, weil man gesagt hat: Das ist ein sudetendeutscher Jude - etwas, das vor 1945 als contradictio in adjecto erschienen wäre. Man kann sagen, die Ost- und Volksdeutschen, die 1945 vertrieben wurden, sind stellvertretend bestraft worden - übrigens kollektiv, und die waren nicht mehr oder weniger Nazi als die Österreicher, die in Wien am Heldenplatz gejubelt und 1945 nichts verloren haben bzw. die froh waren, dass die Juden nicht zurückgekommen sind, damit man nichts hergeben musste. Wenn man in die moralische und historische Wertung hineingeht, ist dort das Problem: Warum müssen die einen mehr unter diesen Folgen der Naziverbrechen leiden als andere "Deutsche" - und zwar Heinlein-Befürworter genauso wie deutschsprachige Sozialdemokraten. Darauf habe ich noch keine gute Antwort gehört.

rathkolb: Ich glaube, es geht nicht um eine juristische Diskussion. Wir sollten uns vielmehr fragen: Was für eine Bedeutung haben die BeneÇs-Dekrete für das kollektive Gedächtnis der Tschechen und Tschechinnen und auch der Slowaken und Slowakinnen, und was bedeuten sie für die vertriebenen Sudetendeutschen der ersten und zweiten Generation. Ich glaube, es wäre wichtig - und Prof. KÇren hat selbst vor kurzem einen Vorschlag in diese Richtung gemacht -, ganz gezielte symbolische Handlungen zu setzen: beispielsweise - und das wird ja auch momentan diskutiert an einem Paradefall - im Bereich der Enteignung von ausgewiesenen sudetendeutschen Antifaschisten - und es gab nicht wenige - einen Schritt zu setzen.

Auf der anderen Seite - und das irritiert mich zunehmend an der europäischen Diskussion - sollte man nicht vergessen, dass die BeneÇs-Dekrete für das tschechische und slowakische kollektive Gedächtnis auch die Erinnerung an das Leiden und die Verfolgung während des Nationalsozialismus bedeutet. Daher muss man auch ein Signal in diese Richtung setzen. Es ist sehr wichtig, das individuelle Schicksal klar zu trennen von einem politischen Signal, und dieses Signal wurde eigentlich nicht gesetzt.

kÇren: Zur Frage der Enteignung: Es gibt in jedem Staat eine bestimmt Grenze, wenn man diese Frage lösen möchte. Zweitens: Es tut mir wirklich leid, was die Vertriebenen erlebt haben. Ich bin seit Jahren in engen Beziehungen mit ihnen und habe manches gehört und gelesen, aber ich muss offen sagen - und das war bisher vollkommen klar in Deutschland - Deutschland muss halt den Verlust des Krieges und gewisse Folgen annehmen. Sollte man das ändern, entsteht eine Reihe von Fragen in Europa.

menasse: Ich glaube, dass wir uns hier alle einige sind, dass prinzipiell für dieses neue Europa, das gerade entsteht und an das wir doch hoffentlich alle glauben, auf jeden Fall gelten muss, dass kollektive Vertreibungen an sich ein Verbrechen sind, aus welchen Gründen auch immer sie geschehen sind.

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