Orgien der Melancholie

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Adam Thirlwells "Grell & Süß" soll ein "wundervoll ausgeklügelter Roman" sein. Warum, erschließt sich auch bei wohlwollender Lektüre nicht.

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Adam Thirlwells "Grell & Süß" soll ein "wundervoll ausgeklügelter Roman" sein. Warum, erschließt sich auch bei wohlwollender Lektüre nicht.

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Wer zweimal auf der angesehenen "Granta's List of Young British Novelists" stand, der darf sich sicher sein, dass seine Bücher Beachtung finden. Der 1978 geborene Adam Thirlwell zählte 2003 und 2013 zu den derart Gepriesenen und galt lange als Shootingstar der englischen Literatur, der sich zudem mit seinem Essay "Der multiple Roman" als kluger Interpret des Genres ausgewiesen hat. Sein dritter Roman "Grell &Süß" scheint auf den ersten Blick alle Erwartungen zu erfüllen. Mit postmodernen Wassern gewaschen, schreibt Thirlwell funkelnde Dialoge, brilliert mit komischem Understatement und müht sich redlich, seinem leicht einherkommenden Erzählfeuerwerk eine philosophische Tiefe zu geben, die große Themen nicht ausblendet.

Die Urfragen von Moral und Aufrichtigkeit

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler, ein Mann um die dreißig, lebt in einer Großstadt, die London ähnelt, irgendwann in einer nicht so fernen Zukunft. Einer geregelten Arbeit geht er nicht nach; stattdessen hängt er allerlei Gedanken nach und hat sich mit seinen lächerlichen Eltern auseinanderzusetzen, die sich um ihren intelligenten, doch unter einem Ennui der Metropole leidenden Sohn Sorgen machen. Verheiratet ist er mit Candry, was ihn nicht davon abhält, mit Romy, einer Freundin seiner Frau, kontinuierlich fremdzugehen. Das führt zu einem Verhängnis, mit dem "Grell & Süß" beginnt: In einem Hotelzimmer findet der Erzähler zu seiner Verblüffung morgens die heftig blutende Romy neben sich und steht vor zwei Problemen: Was tun mit der verletzten Gespielin und wie zurück zur Gemahlin gelangen, ohne dass diese sich über seine blutbesudelte Kleidung wundert?

Ausgehend von dieser morgendlichen Überraschung beginnt der Erzähler seine "persönliche Moralgeschichte" auszubreiten. Von da an passiert sehr viel in diesem Roman, und das Leben des Berichterstatters verläuft nicht mehr in herkömmlichen Bahnen. Er transportiert Romy in ein Krankenhaus, unterhält sich mit seinem Freund Hiro, der Ehefrau Candry und nimmt - Romy und ihr Freund sind auch mit von der Partie - unter Drogeneinfluss an einer Sexorgie teil, die im Zentrum der Geschichte steht und immerhin Argumente dafür liefert, warum Thirlwell mit diesen Passagen nicht für den "Bad Sex in Fiction Award" 2015 nominiert wurde. Ach ja, am Ende kommt es noch zu ungelenken Raubüberfälle, deren Opfer zurückschlagen, und selbst der geneigteste Leser wird sich fragen, warum uns Adam Thirlwell so viel Stoff bietet, um letztlich von so wenig zu erzählen.

Aufgefahren wird viel, keine Frage, auch unterhalb der Plotebene in diesem Roman. Da geht es um die Urfragen von Moral und Aufrichtigkeit, da spielen zerfallende Identitäten eine Rolle, da wird über ästhetische Fragen nachgedacht, die "Old School" sind, weil sie sich darum drehen, "wie sehr etwas mit der echten Welt übereinstimmt", da wird Soziologisches eingestreut ("Wir sind die ersten Kinder, die jedermanns Traumkinder sind"), und da dürfen große Gesten ("Melancholie war in der Weltscharade meine einzige Option") nicht fehlen.

Vergnügen mit schalem Beigeschmack

All das liest man nicht ohne Vergnügen, und wer einen Sinn für leichtfüßige Wortwechsel ("Ich find mich nett. - Das bist du auch, Schatz. Nur leider versteht es keiner") hat, kommt immer wieder auf seine Kosten. Doch warum das - wie der gern überschwänglich lobende Daniel Kehlmann vorab schrieb - ein "wundervoll ausgeklügelter Roman" sein soll, erschließt sich selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht. Und auch die dystopische Ausrichtung des Romans, der aus einer Perspektive erzählt wird, als der Erzähler und seine Frau nicht mehr zusammen sind, ist eine charmante Spielerei, mehr nicht.

Thirlwell bringt alles mit, um einen überzeugenden Roman zu schreiben, doch ein wenig scheint es so, als wisse er bei aller postmodernen Virtuosität nicht, worüber. So bleibt am Ende ein schaler Beigeschmack - als habe man eine viel zu stark gewürzte, zu opulente Mahlzeit zu sich genommen. Bekömmlich ist dergleichen nicht, auch wenn man die ersten Bissen noch lustvoll verzehrt. Das einfallslose Cover des Buches - sehr bunte, wahllos verteilte geometrische Formen - passt sich diesem Eindruck gut an.

Grell & Süß

Roman von Adam Thirlwell

Aus dem Englischen von Tobias Schnettler

S. Fischer 2015.

448 Seiten geb., € 20,60

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