Paternalismus - oder bürgerlicher Eigensinn?

19451960198020002020

Ein Plädoyer wider die Diskreditierung der Freiheit im Namen der Gleichheit und der Versuch einer Klärung zum vielgescholtenen "Neoliberalismus".

19451960198020002020

Ein Plädoyer wider die Diskreditierung der Freiheit im Namen der Gleichheit und der Versuch einer Klärung zum vielgescholtenen "Neoliberalismus".

Werbung
Werbung
Werbung

Der ökonomische Motor der westlichen Zivilisation auf dem mühsamen Weg zur liberalen Demokratie war der freie Handel und Markt. Doch die fortschreitende Entfaltung der Freiheit, die damit einherging und als politische und individuelle Freiheit heute in den westlichen Verfassungen garantiert ist, hat ihre Wertschätzung als treibende Kraft und zugleich substanzielle Errungenschaft dieses Entwicklungsprozesses erheblich eingebüßt. Freiheit ist in den Köpfen zur #kalten Freiheit# des Kapitalismus geronnen, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit produziere. Und flugs wird sie mit dem zum Lieblingsschimpfwort gewordenen Neoliberalismus assoziiert.

Schaut man jedoch nach seiner Herkunft, erhellt sich sofort, dass er das Gegenteil des angeprangerten wilden und ungezähmten Kapitalismus ist. Von Haus aus ist er nämlich wesentlich sozialer und dem Staat zugewandter als sein böser Ruf. Geboren wurde der Begriff 1938 auf einem Kolloquium in Paris, auf dem sich u. a. Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow trafen. Den Erfolg der kollektivistischen Ideologien des Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus sahen sie als Reaktion auf das freie Spiel der Märkte. Das bis dahin waltende liberale Dogma vom Laissez-faire, das sich jegliche staatliche Einmischung verbat, hatte in ihren Augen mit zum Niedergang des Liberalismus beigetragen.

Chancen für alle, keine Privilegien

Sie revidierten deshalb die klassische Position, die in der Folge von Adam Smith die weitgehende Selbstregulierung des Marktes propagierte. Mit dem Begriff des Neoliberalismus gaben sie ihrer Überzeugung Ausdruck, ohne einen staatlichen institutionellen Rahmen sei der Wettbewerb durch Kartell- und Monopolbildung gefährdet. Ein starker Staat, über der Wirtschaft stehend, solle deshalb als Schiedsrichter ordnungspolitisch über den Wettbewerb wachen. Es ging den Neoliberalen und Ordoliberalen seinerzeit also keineswegs um die Schwächung des Staates gegenüber der Wirtschaft, sondern um die Suche nach einer Wettbewerbsordnung, die Chancen für alle ermöglicht und niemandem Privilegien gewährt.

Der diesem Kreis angehörende Sozialwissenschaftler und Ökonom Alexander Rüstow hat in seinen Büchern über #Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus# und #Die Religion der Marktwirtschaft# ausdrücklich auf die Gefahren eines Liberalismus hingewiesen, der ausschließlich auf die Selbstregulierungsfähigkeit des Marktes setzt und dem quasi religiösen Mythos von der #unsichtbaren Hand# à la Adam Smith frönt. Damit, so Rüstow, zerstöre sich der Liberalismus selbst. Deshalb ging es ihm und seinen Kollegen damals um die #Erneuerung des Liberalismus#, d. h. um die Entwicklung eines Neo-Liberalismus. Im Optimismus des klassischen Wirtschaftsliberalismus sah er zudem eine #Glückseligkeitsduselei# am Werke, die die Härte des Wettbewerbs im Marktgeschehen verharmlose. Seine Einlassung dazu kann man gleichsam als Kommentar zur jüngsten Wirtschaftskrise lesen: #Was durch diese Glückseligkeitsduselei gezüchtet wurde [#], das war jener Typ des Spielers, dem das Spiel nur Spaß macht, solange er gewinnt, der aber beim ersten Verlust beleidigt fortgeht und nicht mehr mitspielen will: das Gegenteil des guten Verlierers. Das war jene unmännliche Wehleidigkeit, die besonders im Traditionsbereich des lutherischen Patriarchalismus bei der kleinsten Schramme gleich laut schreiend zum Vater Staat gelaufen kam, um sich ein Subventionspflaster aufkleben zu lassen.

Schwindende Selbständigkeit

Wenn angeschlagene Banken und Unternehmen, sobald es schwierig wird, den Staat anrufen und großzügig ignorieren, dass die wirtschaftliche Freiheit mit Haftung, d. h. Verantwortung verbunden ist, warum sollen es dann die Bürger nicht auch so halten?

Doch wenn der Wohlfahrtsstaat im Namen von Gleichheit und Gerechtigkeit die sozialen Rechte und Garantien immer mehr erweitert, wird der Staat für alle Lebensrisiken haftbar gemacht und der Bürger entmündigt. Die Folge ist das Schwinden von Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und der Fähigkeit, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, die individuelle Freiheit zugunsten der eigenen Autonomie auszukosten # ob nun als Wirtschaftsbürger, politischer Bürger oder Privatmensch.

Trotz der Individualisierungsprozesse, die wir der Moderne seit der Aufklärung verdanken, und der Herausbildung der Zivilgesellschaft ist die Vorstellung vom Staat als gütigem und zugleich strengem Vater immer noch sehr beliebt. Er soll für Wohlstand und Gesundheit seiner Kinder sorgen und am besten alle Güter gerecht und gleich unter ihnen verteilen. Im Gegenzug zu seiner Wohltätigkeit nehmen die Bürger dann auch seine erzieherische Strenge in Kauf. Neben der Ausweitung ihrer Überwachung erlaubt er sich inzwischen immer mehr Übergriffe auf ihr privates Leben. Wird aber die soziale Gleichheit gegen die Freiheit des Einzelnen in Stellung gebracht, geht es oft weniger um das hehre Gut der Gerechtigkeit als schlichtweg um Neid und Missgunst, angetrieben von einem dumpfen Egalitarismus, den der Staat mit Verweis auf das Gemeinwohl gerne bedient.

Die Autorin

Ulrike Ackermann ist Professorin für Politische Wissenschaften in Heidelberg sowie Gründerin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung. Der Text ist ein Auszug aus ihrem Vortrag, den sie beim Philosophicum gehalten hat.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung