Patriarch des Umbruchs

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Geboren im – damals unabhängigen – Estland. Groß geworden in der Sowjetunion als Priester, Bischof, Metropolit. Und dann Patriarch eines neuen Russland. Zum Tod von Aleksij II.

Das kirchliche Wien war in großer Erwartung seines Besuchs, der vom 20. bis 23. Dezember hätte stattfinden sollen. Doch am 5. Dezember erlag Aleksij II., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus. in seiner Residenz im Moskauer Vorort Peredelkino seinem langjährigen Herzleiden. Am 9. Dezember wurde das Oberhaupt der weltweit mitgliederstärksten orthodoxen Kirche in Moskau zu Grabe getragen, der gewählte Patriarchatsverweser Kiril von Smolensk leitete das feierliche Begräbnis, Russlands Staatsspitze war ebenso gekommen wie der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I., das Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie.

Aleksij II., mit weltlichem Namen Aleksej Michajlowitsch Ridigier, wurde 1929 in Tallinn in der Familie eines orthodoxen Priesters geboren. Sein Vater war nach der Oktoberrevolution aus St. Petersburg, dem späteren Leningrad, emigriert. Nach eigenen Angaben hatten zwei Pilgerreisen in das berühmte Valaam-Kloster auf dem Ladoga-See, das damals zu Finnland gehörte, seinen geistlichen Lebensweg wesentlich geprägt. Nach dem 2. Weltkrieg kam Aleksej zur Ausbildung ans Leningrader Geistliche Seminar. Er wurde 1950 zum Priester geweiht. 1958 promovierte er mit einer Arbeit über den bekannten Metropoliten Filaret Drosdow. 1961 wurde er von Metropolit Nikodim (der 1978 in den Armen von Papst Johannes Paul I. in Rom plötzlich versterben sollte) zum Bischof geweiht.

Die „Wiedergeburt“ der orthodoxen Kirche

Von 1968 bis 1987 stand er als Metropolit von Tallinn an der Spitze der Kirche in der Estnischen Sowjetrepublik. Deshalb ging ihm auch der innerorthodoxe Konflikt mit dem Ökumenischen Patriarchat um die estnische orthodoxe Kirche persönlich sehr nahe. Danach war er Metropolit von Leningrad und Nowgorod. Während dieser Zeit engagierte er sich beim Ökumenischen Rat der Kirchen und war von 1987 bis 1992 Präsident der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK). Am 10. Juni 1990 wurde Aleksij II. als 15. Nachfolger des Patriarchen Iow feierlich inthronisiert.

In seine Amtszeit fiel der Putsch gegen Präsident Michail Gorbatschow und die Auflösung der Sowjetunion. In dieser schwierigen politischen Lage mahnte Aleksij II. zum Frieden und zu Verhandlungen und trat entschieden gegen ein Blutvergießen ein. Er vermied es aber, in irgendeiner Form Partei zu ergreifen. Nachdem Boris Jelzin seine Macht als Präsident der Russischen Föderation gefestigt hatte, kam es zu einem wachsenden Nahverhältnis zwischen Präsident und Patriarchen. Als Jelzin bei seinem Rücktritt sofort seinen „Statthalter“ bis zur nächsten Wahl, den ehemaligen KGB-Beamten Wladimir Putin, bekannt gab und sich dieser vom Patriarchen für diese Aufgabe segnen ließ, war offenbar, dass Kirche und Politik in ein neues Nahverhältnis eingetreten waren. Bei fast allen offiziellen Staatsbesuchen von hochrangigen Politikern aus der ganzen Welt in Moskau stand nun auch eine Begegnung mit dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche auf dem Programm.

Unermüdlich hat sich Aleksij II. um den Wiederaufbau der russisch-orthodoxen Kirche nach der kommunistischen Periode eingesetzt. Zwischen 1988 und 2007 stieg die Zahl der Diözesen von 67 auf 142, die der Pfarrgemeinden von ca. 7000 auf rund 28.000 und die der Klöster von 21 auf 733. Etwa die Hälfte des heutigen Episkopats wurde von Patriarch Aleksij geweiht. Dabei ging es ihm nicht vordergründig um die Quantität, sondern um eine geistliche Erneuerung aus der Tiefe des Glaubens. Unermüdlich mahnte er in seiner Kirche eine gediegene Priesterausbildung ein, damit der junge Klerus den Herausforderungen der heutigen Gesellschaft gewachsen sei. Scharfe Kritik übte er an „selbsternannten Starzen (= geistlichen Vätern)“, die ihre geistliche Autorität ausnützten und junge, suchende Menschen zu weitreichenden Lebensentscheidungen drängten.

Konflikte mit der katholischen Kirche

Bei vielen Gelegenheiten warf der russische Patriarch der katholischen Kirche vor, sie betreibe in Russland Proselytismus, das heißt, sie versuche mit unlauteren Mitteln (z. B. durch Sozialengagement) orthodoxe Gläubige abzuwerben und für die katholische Kirche zu gewinnen. In einer offiziellen Erklärung der russischen Kirche aus dem Jahr 2002 – unmittelbar nach der Errichtung von vier katholischen Diözesen auf dem Gebiet der Russischen Föderation, die zu einem Tiefpunkt der Beziehungen zwischen Moskau und dem Vatikan führte – wurden unter dem Thema „Der katholische Proselytismus unter der orthodoxen Bevölkerung“ auf rund 15 Seiten alle Aktivitäten von katholischen Einrichtungen und Ordensgemeinschaften minutiös aufgelistet und kritisch angemerkt, dass vor allem Missionsorden in Russland tätig seien.

Die Diskussion um die mit Rom unierten Kirchen, die durch die Wiederzulassung der griechisch-katholischen Kirche in der Westukraine und den Anspruch der Unierten um Restitution ihrer Kirchen und kirchlichen Gebäude zu Beginn der 90er Jahre voll entflammt war und von beiden Seiten (Orthodoxen und Unierten) sehr emotional geführt wurde, hatte zu einem völligen Stillstand im offiziellen theologischen Dialog mit der katholischen Kirche geführt.

Im Zusammenhang mit diesen Vorwürfen drohte der verstorbene Patriarch zuweilen mit der Einstellung aller ökumenischen Beziehungen, falls sich die Politik des Vatikans nicht grundlegend ändere. Auch der immer wieder von den Medien ins Spiel gebrachte Besuch des römischen Papstes in Moskau – Papst Johannes Paul II. hatte diesen Wunsch mehrfach geäußert – wurde von Aleksij II. wegen der genannten Vorwürfe abgelehnt.

Beendigung eines Schismas

Als bedeutender Erfolg seiner Amtszeit wird die offizielle Beendigung des Schismas zwischen der russischen Patriarchatskirche und der Emigrantenkirche, der „Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland“ 2007 in die Geschichte eingehen. Dass dieser jahrzehntelange Konflikt, der verbal sehr hart ausgetragen wurde, in so relativ kurzer Zeit beigelegt werden konnte, hätten viele Beobachter nicht für möglich gehalten.

In einem ORF-Interview, das Anfang November geführt wurde, betonte der Patriarch seine Vorfreude auf den Besuch in Wien, weil ihn seine erste Reise in den Westen vor vielen Jahren in die österreichische Hauptstadt geführt hatte. 1997 war er Gast beim Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der noch im selben Jahr einen Gegenbesuch in Russland abstattete. In der Osterwoche 2008 reiste eine Delegation von Pro Oriente mit Erzbischof Alois Kothgasser an der Spitze nach Moskau und wurde vom Patriarchen herzlich empfangen.

Gemäß den Satzungen der russisch-orthodoxen Kirche hat der Heilige Synod am 6. Dezember einen Statthalter der Patriarchenkathedra gewählt. Er wird die laufenden Amtsgeschäfte bis zur Wahl eines neuen Patriarchen wahrnehmen. Die Wahl fiel – wenig überraschend – auf Metropolit Kiril von Smolensk und Kaliningrad, den Leiter des kirchlichen Außenamtes.

Der Autor leitet an der Universität Wien das Institut für Theologie und Geschichte des Christlichen Ostens.

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