Phantasie und Wirklichkeit

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Verführung zu Leselust und schonungslose Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit Jugendlicher: Zwei Beispiele von neuester Literatur für und über Jugendliche, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.

Seit "Harry Potter" ist der Glaube daran zurückgekehrt, dass Lesen für Kinder mit Lust verknüpft sein kann - seien die Bücher auch noch so dick. Und so zeigt dieser Bücherherbst auch den neuen Mut der Verlage zum "dicken" Buch: Der Verlag Sauerländer bringt einen 490 Seiten starken Schmöker unter dem Titel "Prinz Faisals Ring" auf den Markt, in dem Bjarne Reuter sich einer seit langem von innovativen Ideen vernachlässigten Gattung widmet - der historischen Abenteuererzählung. Er tut dies durchaus im konventionellen Rahmen, erzählt dabei aber sehr perfekt und mit einem überaus appetitlichen Schuss ironischer Übertreibung. Eingebettet in ein historisch realistisches Geschehen - 17. Jahrhundert, Inselwelt Westindiens - lässt er im Spiegel des sozialen und politischen Hintergrundes von florierender Sklaverei, reichen Handelsschiffen und grausamer Piraterie, von römischer Inquisition und Hexenverbrennung auch die revolutionären Theorien des Kopernikus in seine Handlung einfließen. Zum Protagonisten erwählt Reuter den 13-jährigen Tom Collins, als Halbwaise mit Mutter und Schwester dem Gutdünken eines eigensüchtigen Wirtes ausgeliefert, ähnlich einem Leibeigenen. Als eines Nachts zu später Stunde noch jemand Einlass in die Schenke begehrt, ist dies das untrügliche Zeichen für den klassischen Einstieg: Tom wird von einer Wahrsagerin die Zukunft vorhergesagt. Und damit wird die Tür geöffnet für einen faszinierenden Erzählbogen, in dem spannende Verfolgungs- und Rettungsaktionen aufeinander folgen, in dem Freundschaft und Verrat eine große Rolle spielen, in dem die Bösen reihenweise ums Leben kommen und die Guten - knapp und in allerletzter Sekunde - dem Tod entrinnen. Gewalt und Grausamkeit gegenüber den Sklaven werden nicht beschönigt, die Beschreibung bleibt aus der Sicht des unter den weißen Herren sozialisierten Tom zumindest vorerst distanziert und im Hochmut der überlegenen Zivilisation. Andererseits wirken die Piraten mit ihren regelrecht haarsträubenden Brutalitäten eher karikiert. Was ein wenig an Karl Mays Erzählton gemahnt, wird allerdings unter dem Motiv der "großen Suche" leichtfüßig zu einem Entwicklungsroman, in dem der Held sich vom scharfzüngigen Großmaul, Lügner und Aufschneider zum quicken Schelm der hohen Schule wandelt. Viel Spannung und wenig Moralin, reichlich rauhe Männlichkeit mit immerhin einer starken Frauenfigur und inmitten der Abenteuer ein angenehmes Maß an reflektiertem Geschichtenerzählen sind Garanten für Stunden voller Lesesucht.

Ganz und gar realistisch erzählt ist das wohl hervorstechendste Buch dieses Herbstes: "Das Leben ist komisch", Ich-Erzählungen, deren Umgang mit Grammatik schonungslos, deren Sprache - gespickt mit Slangwörtern und Hasstiraden - durchgehend radikal und authentisch ist, sodass die - im übrigen hervorragende - Übersetzung von Heike Brandt dafür manch kunstvolle Brücken bauen muss. IchErzählungen von elf Jungen und Mädchen, die Einblicke in ihr Leben geben, ihren Alltag, ihre Lebensumstände - über vier Jahre hinweg. Die Jugendlichen kennen einander teils, erzählen auch von einander, haben miteinander zu tun: Als Freunde oder bei Schlägereien, als Außenseiter oder als heimlich Angebetete, als Schulkollegen und Nachbarn. Als LeserInnen begegnen wir den Jugendlichen in ihrem kleinstädtischen Milieu irgendwo in Amerika, dort, wo sehr Arme und nicht ganz so Arme nebeneinander leben, Weiße und Schwarze und Farbige und Latinos. Wer dort lebt, hat es sich nicht ausgesucht, hat nicht die finanziellen Mittel, woanders in die Schule zu gehen. Wer dort lebt, muss sehen, dass er nicht unter die Räder kommt - unter die Räder von Gewalt, Drogen, Missbrauch, Misshandlung, von psychischer und physischer Zerstörung, oder einfach nur der Notwendigkeit, den äußeren Schein zu wahren. Hier ist Gewalt nicht die Ausnahme und oft ist sie so privat, dass niemand etwas mitbekommt. Beschädigte Kindheit. Und Kinder, die daraus ihre Lehren ziehen: Unter Umständen jene, es selbst anders machen zu wollen. Kinder, die sich selbst ganz fest am Schopf halten, um nicht unterzugehen. "Das Leben ist komisch" ist ein erschütterndes Dokument, in sozialen Projekten und Schreibwerkstätten von E. R. Frank miterlebt, recherchiert und zusammengetragen. Nicht hoffnungslos, nicht weinerlich. Ohne Selbstmitleid erzählen die Jugendlichen über ihren Hass und ihre Sehnsucht. Über ihre Vorstellung von Gott. Betroffenheit ohne das geringste Quantum Betroffenheitsrhetorik.

Prinz Faisals Ring

von Bjarne Reuter, aus dem Dänischen von Gabriele Haefs. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2002. 492 Seiten, geb.,

e 18,50 (Empf. ab 12 J.)

Das Leben ist Komisch

von E. R. Frank, aus dem Amerikanischen von Heike Brandt. Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2002. 279 Seiten, geb.,

e 15,40 (Empf. mit Gespräch ab 16 J.)

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