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Zur Ausweisung der bekanntesten Intellektuellen Russlands vor 80 Jahren.

Im Jahr 1922 fuhren zwei Dampfer von Petrograd (heute wieder St. Petersburg) nach Deutschland. Ihre "Fracht": Spitzenvertreter der intellektuellen Elite Russlands. Nach achtzig Jahren ist es an der Zeit, diese Episode nicht nur der russischen Geistesgeschichte dem Vergessen zu entreißen.

Am 19. Mai 1922 verlangte der sowjetische Führer Wladimir Lenin in einem Brief an den Chef der Geheimpolizei GPU, Felix Dserschinskij, die Ausweisung von Schriftstellern und Professoren vorzubereiten, welche "die Konterrevolution unterstützen". Daraufhin stellten eigens gebildete Kommissionen entsprechende Listen zusammen. Die bürokratische Vorbereitung der Verbannungen leitete dann aber nicht Dserschinskij, der seit April 1921 vor allem mit der Wiederherstellung des Eisenbahnnetzes betraut war, sondern sein Stellvertreter Iosif Unschlicht.

Bei Rückkehr Hinrichtung

Am 16. und 17. August 1922 erfolgten vor allem in Moskau, Petrograd und der Ukraine die Verhaftungen der Meisten der Auszuweisenden. Zwei Wochen später nahm ein Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei noch Änderungen auf den Listen der "antisowjetischen Intellektuellen" vor. Mehrere Namen darunter der bekannte Ökonom Nikolaj Kondratjew - fielen wieder heraus. Funktionäre oppositioneller Parteien (Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten, Kadetten) sowie Vertreter verschiedener Wissenschaften fanden sich jedoch auf den beiden deutschen Schiffen "Oberbürgermeister Hacken" und "Preussen" wieder, die sie Ende September und Mitte November 1922 ins Exil brachten. Sie alle hatten zuvor ein Dokument zu unterzeichnen, aus dem hervorging, dass ihnen im Falle der Rückkehr nach Sowjetrussland die Hinrichtung droht.

Intellektuelle Prominenz

Bis heute ist oft von den "Philosophendampfern" die Rede, obwohl die Vertreter dieses Berufsstandes an Bord in einer Minderheit waren. Das erklärt sich offenkundig aus der Bekanntheit der betroffenen Denker, darunter vor allem Nikolaj Berdjajew, Sergej Bulgakow, Semjon Frank, Iwan Iljin, Nikolaj Losskij, Lew Karsawin, Fjodor Stepun, Wassilij Senkowskij, Iwan Lapschin und Boris Wyscheslawzew. Das waren fast alle führenden nichtmarxistischen Philosophen Russlands, auch wenn sich viele von ihnen (darunter der berühmte Berdjajew) in ihrer Jugend vom Marxismus angezogen gefühlt hatten. Die Fahrt der "Philosophendampfer" war auch ein metaphorischer Akt, der das erzwungene Ende der Entwicklung der russischen Philosophie des "Silbernen Zeitalters" und einen ersten Höhepunkt der aktiven administrativen Einmischung der Kommunistischen Partei und des Sowjetstaates in die geistige Kultur markierte. In der damaligen Sprache der Kommunisten handelte es sich dagegen um eine "Säuberung der Intelligenz von bürgerlichen Elementen".

Ausgeschifft wurden auch der Historiker Alexander Kiesewetter, der an der Gründung der antikommunistischen Kadettenpartei teilgenommen hatte, und der Astronom Wsewolod Stratonow. Dieser hatte sich durch seine Proteste gegen die Einschränkung der Autonomie der Moskauer Staatlichen Universität, wo er Dekan der Fakultät für Mathematik und Physik gewesen war, bei den sowjetischen Machthabern unbeliebt gemacht. Auch Vertreter des Mitte 1921 von den Behörden aufgelösten Allrussischen Hungerhilfe-Komitees sahen sich verbannt. Ihr "Vergehen": Sie hatten die Sowjetführung beschuldigt, Mitverantwortung an einer gewaltigen Hungersnot mit 5 Millionen Toten zu tragen.

Willkommen im Exil

Im Sommer 2002 berichtete die Moskauer Presse von der Veröffentlichung der Akten zweier weniger bekannter Passagiere der "Philosophendampfer" durch das Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), einer Nachfolgeorganisation der GPU. Es handelte sich um den Journalisten und Autor Viktor Iretzkij und Alexej Peschechonow, der Minister für Ernährung in der von den Bolschewiki gestürzten Provisorischen Regierung von 1917 gewesen war. Die Akten der anderen Verbannten blieben ohne Angabe von Gründen unter Verschluss.

Die Zahl der Ausgewiesenen ist bis heute unklar. Auf den drei Listen des Politbüros für Moskau, Petrograd und die Ukraine hatten 228 Personen (davon 32 Studenten) gestanden. Die sowjetischen Fahnder konnten aber nicht aller habhaft werden. Zudem erfolgten die Ausweisungen nicht nur mittels der beiden "Philosophendampfer": Diverse Gruppen von Intellektuellen vor allem aus der Ukraine wurden 1922-23 per Schiff nach Istanbul gebracht und weitere Oppositionelle - darunter der Soziologe Pitirim Sorokin, der 1930 an der Harvard-Universität die Abteilung für Soziologie begründen sollte - wurden per Bahn nach Riga (Lettland) abgeschoben. Nicht alle zwecks Ausweisung Verhafteten traf dieses Schicksal dann auch: So zog es die Sowjetführung vor, oppositionelle Ärzte zur Bekämpfung von Epidemien nach Sibirien und Turkestan zu schicken.

Russische Stimmen betonen einhellig die gute Aufnahme, welche die unfreiwilligen Emigranten in Deutschland fanden. Tatsächlich stellte die Stadtverwaltung von Berlin trotz der drastischen Wirtschaftskrise Mittel für die Russen bereit, die denn auch sofort an die Gründung einer eigenen religionsphilosophischen Akademie gehen konnten. Im Februar 1923 entstand das Russische Wissenschaftsinstitut, an dem etwa Berdjajew, Kiesewetter, Struwe und Iljin tätig waren. Es sollte die Machtübernahme der Nationalsozialisten zehn Jahre später jedoch nur kurz überstehen. Im Zweiten Weltkrieg stellte sich keiner der abgeschobenen russischen Philosophen auf die Seite Hitlerdeutschlands. Berdjajew, der noch in der Emigration von sowjetischen Geheimdiensten bespitzelt wurde, unterstützte Stalins Politik völlig vorbehaltlos. Er war Mitglied einer "Union sowjetischer Patrioten" und verlautbarte, "die Sowjetmacht für die einzige russische Nationalmacht" zu halten.

Dem Tod entronnen

Für die meisten Insassen der "Philosophendampfer" war die Ausweisung natürlich eine persönliche Tragödie, doch sie erhielt ihnen immerhin das Leben, das sie weiter der Wissenschaft widmen konnten. Hätten sie in Russland bleiben können, wären zweifellos viele von ihnen während der Stalinistischen "Säuberungen" umgekommen. Das belegt etwa das Schicksal Kondratjews, der 1930 verhaftet und 1938 erschossen wurde.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass jene Sowjetfunktionäre, die für die Ausweisungen verantwortlich waren, ein teilweise rasches oder jedenfalls überaus unerfreuliches Ende fanden: Lenin ereilte der Tod bereits Anfang 1924. Dserschinskij starb 1926 - offiziell an Herzversagen, hartnäckigen Gerüchten zufolge einen nicht ganz natürlichen Tod. Unschlicht wurde 1938 getötet. Lew Trotzki, der 1922 die Ausweisungen der Intellektuellen beredt gerechtfertigt hatte, musste 1929 selbst die UdSSR verlassen. Elf Jahre später ermordete ihn ein Agent von Stalins Geheimpolizei in Mexiko. Die Revolution hatte ihre Väter gefressen.

DerAutor ist Assistent des Verteidigungsattachés an der Österreichischen Botschaft in Moskau.

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